Programm und Ziele des Forschungsprojekts (Kurzfassung)

1. Zusammenfassung

In vielen kulturwissenschaftlich relevanten Theorien des 20. Jahrhunderts spielen Dreierkonstellationen eine auffallende Rolle. Das Spektrum reicht von der soziologischen Arithmetik Georg Simmels und von der Psychoanalyse als Theorie affektiver Triangulierungen bis zu den Differenztheorien der neuesten Zeit (Luhmann, Derrida, Serres), die auf epistemologischem Niveau dritte Größen einführen, durch die gängige dichotomische Unterscheidungs- und Ordnungsschemata unterlaufen werden. Die gender-Theorie verwendet zur Überwindung der Geschlechterpolarität den Begriff des dritten Geschlechts, während Konzepte von third space und kultureller Hybridität durch die Debatte um Postkolonialismus und Globalisierung Aktualität erlangt haben. Trotz unterschiedlicher Kontexte zeichnet sich dabei eine allen Ausprägungen gemeinsame Doppelkonditionierung des Dritten ab. Er ist ein Zwitterwesen, das ebenso trennt wie verbindet, sowohl als Störer wie als Mittler fungiert und dadurch gleichermaßen aus der Ordnung ausgeschlossen wie in sie eingeschlossen ist - eine Charakteristik, die es erlaubt, von der Figur des Dritten zu sprechen.
Die Literatur ist mit diesem Phänomen auf doppelte Weise befaßt. Zum einen hat sie es seit jeher mit dem zweideutigen Personal von Rivalen, Boten, Dolmetschern sowie mit dem weiten Feld sprachlicher Techniken des Sowohl-als-auch, der Ambivalenz und Paradoxierung zu tun und läßt sich deshalb im Hinblick auf eine historische Semantik der Figurationen des Dritten befragen. Im Weiteren treten jedoch die subversiven Effekte, die durch Intervention dritter Instanzen hervorgebracht werden, auch in außerliterarischen Wissensordnungen auf. Sie legen generelle Mechanismen der kulturellen Semiosis frei, die mit dem Instrumentarium der Literaturwissenschaft untersucht werden können. Das Thema verbindet also zwei Dimensionen: das Studium entsprechender literarischer Narrative leitet dazu an, den kulturellen Umgang mit kategorialen Zwischenzonen und Mischformen überhaupt einer rhetorisch-narratologischen Analyse zu unterziehen.
Das geplante Kolleg ist durch Kooperationen mit den Universitäten Zürich, Basel, der Johns Hopkins University und der University of Chicago international ausgerichtet. Es soll die Graduierten von der Basis literaturwissenschaftlicher Themenstellungen aus in Zusammenhänge einer kulturtheoretischen Grundlagenforschung einführen. Das schließt eine disziplinär fundierte Transdisziplinarität ein. Sie dient dem Ziel, über die Stammkompetenz der beteiligten Fächer hinaus die Funktionsweise kultureller Codes in der Wissensgesellschaft zu reflektieren.


2. Forschungsprogamm

2.1 Übersicht

Auf der Bühne der Epistemologie ist es im 20. Jahrhundert zu einer signifikanten Umbesetzung gekommen. Ins Rampenlicht der Theoriebildung tritt eine Gestalt, die bis dahin weitgehend zu einer Existenz off stage verurteilt war. Wenn überhaupt, dann durfte sie nur kurze Gastspiele geben, die meist mit einem Eklat endeten. Das hat sich geändert, seit neue Theorien den Spielplan bestimmen. Aus dem einstigen Spukwesen ist eine Schlüsselfigur geworden, die zwar ihren Mitspielern nicht ganz geheuer ist, aber von ihnen nichtsdestoweniger auf fast ehrerbietige Weise anerkannt wird.
Es handelt sich um die Figur des Dritten. Während die klassische abendländische Episteme binär organisiert war und das Dritte regulär nur in der Form des Übergangs oder der Verbindung zu höherer Einheit zu denken vermochte - und nicht als Größe, die neben den beiden Termen dualistischer Semantiken vom Typ wahr/falsch, Geist/Materie, Gott/Welt, gut/böse, Kultur/Natur, innen/außen, eigen/fremd bestehen bleibt -, räumen alle neueren Theorien, die sich auf der Ebene der kulturellen Semiosis bewegen, der Instanz des Dritten eine entscheidende Rolle ein. Das gilt für den Begriff des Parasiten bei Michel Serres; für die Einführung dritter, den Binarismus der Metaphysik unterwandernder Größen in der Dekonstruktion (différance, Spiel usw.); für Niklas Luhmann und seine kybernetische Systemlogik, die in Erweiterung oder gar Überwindung der aristotelischen Logik ein "tertium datur" zu denken versucht und auf diese Weise einen neuen Umgang mit systemischen 'Fehlermeldungen' (Paradoxie, Tautologie) ermöglicht.
Dieser epistemologische Regiewechsel erfaßt auch auf weniger abstraktem Niveau die kurrenten Theorien des Psychischen und Sozialen. Denn auch die Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen ist nicht mehr aus Gegensätzen und der Dynamik ihrer Schlichtung, sondern aus persistenten, in keine Einheit rückführbaren, sich vielmehr selbstähnlich fortpflanzenden oder multiplizierenden Dreiecken zusammengebaut. Und auch hier gilt, daß der Dämon der alten Welt der Heros der neuen ist - was nicht bedeutet, daß man seine dämonischen Ursprünge vergißt. Die Störfaktoren von gestern haben sich in soziale Operatoren von heute verwandelt.
Die Liste der neuen Protagonisten ist lang. So wurde der Trickster, jener unzuverlässige, listige, teils bösartige und teils schelmische Doppelagent zwischen zwei Welten, den jedes einigermaßen geordnete Götterregiment auszuschalten versuchte, inzwischen zur Ikone des Interkulturalitätsparadigmas erhoben. Der Bote, der sich eigenmächtig verhält und sich dadurch als verfälschenden Dritten zwischen Absender und Empfänger ins Spiel bringt, hat einen Ehrenplatz in den gängigen Medientheorien erhalten. Der Dolmetscher, dessen Übersetzungen auf ihrem Eigensinn insistieren und dadurch die intendierte Verständigung gefährden, kann sich mittlerweile zur Avantgarde der Sprachtheorie zählen. Und schließlich hat der Rivale, der seit jeher das Duett der Liebenden in Mißklang versetzte und dafür zumeist mit dem Leben bezahlte, die Schlüsselrolle in den Theorien des Begehrens eingenommen. Kein Liebesbündnis und kein erotisches Begehren, die nicht in einer triangulären Dynamik prozessiert würden, in der die Figur des Nebenbuhlers die Hauptrolle spielt. Die Psychoanalyse wird inzwischen in Richtung auf eine allgemeine Theorie der Triangulierung weitergeschrieben; und mit René Girard ist der Rivale ins Zentrum der sozialanthropologischen Modellbildung getreten.
Girard deutet mit seinem ersten, inzwischen ins Deutsche übersetzten Buch 'Mensonge romantique et vérité romanesque' (Paris 1961) auf die literarische Genealogie einer solchen Logik des Dritten hin. In der Tat ist die Affinität dieses die großen Systematiken verunreinigenden Zwitterwesens zu literarisch-künstlerischen Darstellungsweisen augenfällig. Das liegt zum einen daran, daß an den Rändern des systematisierten Wissens die Übergänge zwischen diskursivem und narrativem Sprechen fließend werden. Zum anderen wohnt triangulären Konstellationen aller Art seit jeher eine beträchtliche poetische Produktivität inne. Die Literaturgeschichte verfügt über einen eigenen, reichen Erfahrungsschatz im Umgang mit komplexen triadischen Strukturen, was seit jeher andere Wissensfelder, die den epistemologischen Irritationen dritter Instanzen der Ordnung/Unordnung ausgesetzt sind, zum 'Import' ihrer sprachlich-erzählerischen Verfahren veranlaßte. Entsprechend sind hier auch die Analyseverfahren der Literaturwissenschaft gefordert.
Wie in der Theorie ist in der Literatur der/die/das Dritte eine sowohl produktive als auch prekäre Figur. Sie eignet sich deshalb in besonderem Maß als Kategorie einer einläßlichen Rekonstruktion von Begehrens- und Übertragungsbeziehungen innerhalb von Erzählwerken und Dramen. Dies hat in epochenübergreifender, komparatistischer Perspektive zu geschehen. Die Untersuchung literarischer bzw. bild- und medienästhetischer Dreierkonstellationen, die nicht nur die Handlungsebene, sondern auch Struktur und mediale Verfaßtheit von Kunstwerken einbezieht, wird den Arbeitsschwerpunkt des geplanten Graduiertenkollegs bilden. Sie soll der Ausbildung einer textanalytischen Kernkompetenz und damit eines methodischen Instrumentariums dienen, die sodann auf allgemeinere kultursemiologische Zusammenhänge anwendbar sind.

2.2 Epistemologie. Historische Semantik des Dritten

Differenztheoretisch entstehen 'Effekte des Dritten' immer dann, wenn intellektuelle Operationen nicht mehr bloß zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung oszillieren, sondern die Unterscheidung als solche zum Gegenstand und Problem wird. Zu den jeweils unterschiedenen Größen tritt die Tatsache der Unterscheidung wie ein Drittes hinzu, das keine eigene Position innehat, aber die Positionen auf beiden Seiten der Unterscheidung ins Verhältnis setzt, indem sie sie zugleich verbindet und trennt - ein Drittes, das binäre Codierungen allererst möglich macht, während es selbst als konstituierender Mechanismus gewöhnlich im Verborgenen bleibt.
Als Arbeitshypothese soll gelten, daß diese Wendung der Perspektive auf das konstituierende Dritte 'zwischen' binär aufeinander bezogenen Größen, mit anderen Worten: die Problematisierung der Unterscheidung als Unterscheidung, ein Phänomen darstellt, das in der Moderne besonders vordringlich geworden ist. Systemtheoretisch gesprochen geht es hier um Beobachtung zweiter Ordnung, das heißt um die Beobachtung von Beobachtungsweisen, die auch in den Periodisierungen der Luhmann-Schule ein Charakteristikum der Moderne darstellt. Das bedeutet keineswegs, daß nicht auch vormoderne Semantiken eine hohe Sensibilität für die Paradoxieanfälligkeit binärer Ordnungen, für Probleme der Grenzziehung, des Übergangs und der Vermischung zwischen opponierenden Bedeutungsfeldern besaßen. Indessen ist ihr allgemeiner, sozusagen offizieller Integrationsmodus von einer Art gewesen, die das Problem des Dritten im differenztheoretischen Sinn - als Eingeschlossenes/Ausgeschlossenes der Unterscheidung - nicht im gleichen Ausmaß aufgeworfen zu haben scheint.
Traditionelle duale Semantiken gewährleisten die Einheit ihrer Unterscheidungen dadurch, daß jeweils eine Seite das Ganze mitrepräsentiert: die scheinbare Parität zwischen den Gegensätzen (die auf Unentscheidbarkeit hinauslaufen würde) wird von einer funktionellen Asymmetrie durchbrochen, insofern einer der beiden Werte als großer Term figuriert, der den anderen, kleinen Term, dem er gegenübersteht, zugleich auch umschließt.
So tritt in theologischer Perspektive Gott als Schöpfer der Welt aus sich heraus und schafft damit allererst die Möglichkeit zur Differenz, das heißt zum Entstehen diskreter Wesenheiten; aber die Spaltung zwischen Schöpfer und Schöpfung ist in der Universalität Gottes zugleich von Anbeginn aufgehoben. Entsprechend beruhen die klassischen Morallehren darauf, daß der Gegensatz und die wechselseitige Relativierung von gut und böse ihrerseits eingefaßt sind in einer guten und ordnungsgemäßen Einrichtung der Welt, auf die das Handeln des Menschen normativ verpflichtet werden kann. Auf gleiche Weise stellen metaphysische Systeme die Einheit der Welt sicher, indem sie in ihren begrifflichen Dualitäten jeweils einen Term privilegieren - etwa den Geist, der seinen Gegensatz, die Materie, umgreift und so die Welt davor bewahrt, manichäisch in zwei unversöhnliche Gegenkräfte zu zerfallen. Noch die Dialektik des deutschen Idealismus begreift Differenz als Ausfaltung einer (vorgängigen) Einheit, die in einer der beiden Seiten des dialektischen Widerspruchs - Vernunft, Ich, Subjekt - potentiell schon enthalten ist und sich nach Durchlaufen eines geistigen bzw. weltgeschichtlichen Aneignungsprozesses in actu vollzieht. Politisch virulent werden solche Formen konfliktueller Einheitsstiftung spätestens dann, wenn sie auf die Differenz Eigenes/Fremdes Anwendung finden. Die kulturelle Konfrontation zwischen Europa und der nichteuropäischen Welt waren nach diesem Schema modelliert, das sich im Kolonialdiskurs, angefangen von der christlichen Missionierung bis hin zu noch heute anhängigen normativen Vorstellungen von Zivilisation und 'Entwicklung', manifestierte.
Eine Semantik, die dem heterarchischen und polyzentrischen Charakter moderner Gesellschaften Rechnung trägt, kann nicht mehr auf solchen hegemonialen Unifizierungen aufbauen. Hält sie am Grundmuster binärer Codierung fest, so wird es ihr doch unmöglich, zwischen dem einen Term der jeweils getroffenen Unterscheidung und der Einheit der Unterscheidung ein Verhältnis der Synekdoche zu konstruieren. Damit ist das herkömmliche Schema der Inklusion der Teile ins Ganze überhaupt außer Geltung gesetzt. Umso schärfer stellt sich nun die Frage nach dem konstituierenden, sowohl verbindenden wie trennenden Dritten der Zweiheit.
Die alteuropäische Semantik hatte mit ihren Dualismen stets eine hochelaborierte Metaphysik der Dreizahl mitgeführt: vom christlichen Dogma der Trinität bis hin zu den neuplatonischen Triaden, die in der Renaissance wieder zu großer Bedeutung gelangen [Samsonow]. In dieser Zahlensymbolik war die Dreizahl gewöhnlich dazu ausersehen, die Entzweiung der Welt zu überwinden und eine als vorgängig verstandene Einheit restituieren. Das gilt ebenso für die Dreischrittmodelle, die von der Aufklärung bis zum Marxismus in zeitlicher Extension, nämlich geschichtsphilosophisch, grundlegend sind. Daneben gab es das Dritte durchaus auch als Kategorie einer kritischen, die Ordnung der Welt bedrohenden Größe: überall dort, wo Mischungen und Bastardisierungen binärer Zurechnungskategorien, groteske Mißbildungen, monströse Zwittergeschöpfe und -welten auf den Plan traten. Bestimmte Strömungen und Epochen, insbesondere der europäische Manierismus, scheinen geradezu davon besessen, die Organisationskraft dualistischer Begriffs- und Wertordnungen durch Konstruktion 'dritter Fälle' an ihre Grenze und darüber hinauszutreiben.
Alles in allem jedoch blieben dies Ausnahmen in einem Universum von Regeln, das in seinem Bestand nicht oder nur sporadisch-krisenweise gefährdet war. Abweichend verhält es sich mit den Denkweisen des Dritten, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Hier wird der Ausnahmezustand gewissermaßen auf Dauer gestellt. Wenn in der Begegnung zweier Parteien keine von beiden Seiten einen hegemonialen Anspruch mehr geltend machen kann - einen Anspruch, der das Andere in das Eigene zurückführt und den Gegensatz als Derivat einer übergreifenden Ordnung ansieht, die mit der eigenen übereinstimmt - dann ist eine neue Grammatik kultureller und epistemologischer Verhandlungen notwendig, die mit herkömmlichen Mitteln nicht zu gewinnen ist. Daß der 'epistemologische Ausnahmezustand', den das späte 20. Jahrhundert ausgerufen hat, nicht als bloßes Durchgangsstadium von einer identitären Ordnung zur anderen aufgefaßt werden kann, kann ein semantikgeschichtlicher Vergleich zeigen. Während neuzeitliche Kategorien wie Monstrosität oder Groteske ihren Sinn oder Unsinn daher beziehen, daß sie aus der Ordnung der Dinge ausscheren (in Form taxonomischer Verwirrung oder eines karnevalesken Zwischenspiels), ist das etymologisch ja verwandte Konzept der Hybridität, wie es heute weltweit diskutiert wird, ganz anders geartet: es versteht 'Zwischen-Sein' auf allen soziokulturellen Ebenen als Signum einer paradoxen, weil nicht mehr normierbaren 'Normalität' der (Post-)Moderne.
Wie grundlegend dieser Wandel ist, läßt der Abstraktions- und Komplexitätsgrad der theoretischen Modelle erkennen, die so etwas wie eine transbinäre Grammatik dritter Räume zu entwerfen versuchen. Es gibt Grund zu der Vermutung, daß die entscheidende epistemologische Bruchlinie, was die deutsche Philosophiegeschichte betrifft, irgendwo zwischen Hegel und Marx einerseits, Kierkegaard und Nietzsche andererseits verläuft. Was den Umbau hierarchisch gestufter Kategoriensysteme zu Modellen einer pluralen und heterarchischen Wissenslandschaft betrifft, ist Wittengensteins Theorie des Sprachspiels zu nennen, auf die Lyotard in seinem programmatischen Buch 'La condition postmoderne' zurückgreift. Im angelsächsischen Raum kommen der Übersetzungstheorie (Quine) und insbesondere Peirces Semiotik Bedeutung zu - Peirce hat man ja unlängst sogar "Triadomania" vorgeworfen [Spinks 1991; vgl. Vortrag Baltzer]. Peirces Quantorenlogik dürfte unter allen Entwürfen einer dreiwertigen Logik derjenige sein, der sich am ehesten mit kulturwissenschaftlichen Denkformen verbinden ließe. Im theoretischen Orbit des Poststrukturalismus schließlich ist die Referenzdichte auf Figuren/Strukturen des Dritten besonders hoch - angefangen von Lévinas' Meditationen über Alterität bis hin zu den zahlreichen identitäts- und metaphysikkritischen Konzepten, die derzeit die Methodenreflexion der Kulturwissenschaften beherrschen.
Es ist aber innovativer und wird das in der Thematik enthaltene Risiko eines fruchtlosen Theorie-Selbstläufertums reduzieren, wenn man der Vielzahl und den konkreten Gegebenheiten der epistemischen Regimes Rechnung trägt, die gleichsam vom Gespenst des Dritten heimgesucht werden. Hier öffnet sich das Thema einer wissenschaftsgeschichtlichen Bestandsaufnahme, die trotz der Diversität der einzelnen Wissensmilieus vermutlich allenthalben ganz ähnliche Probleme antreffen wird.
Von der Soziologie als einem sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts konstituierenden Fach kann mit geringer Übertreibung gesagt werden, daß sie ihren Gegenstandsbereich der Dreizahl verdankt. Gründungsurkunde der soziologischen Figur des Dritten sind Georg Simmels 'Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung' von 1908. Simmel sieht die Zweierbeziehung als vorsoziale Relation an. Erst das Hinzutreten des Dritten läßt Gesellschaft als Gesellschaft emergieren und setzt Prozesse sozialer Objektivation in Gang, die über die Sphäre einer reziproken, jederzeit auf Personen zurechenbaren Interaktivität hinausgehen. Auf Simmels Typologie des Dritten - er diskutiert den Unparteiischen, den Vermittler, den tertium gaudens, das Prinzip des divide et impera im Hinblick auf die "Zahlverhältnisse der Vergesellschaftung" (Simmel 1908, S. 98) - greifen Studien zur Gruppen- und Familiensoziologie [Allert 1998] und neuerdings mentalitätsgeschichtliche Arbeiten zurück [Fett 2000].
Von besonderem Interesse sind Simmels 'Untersuchungen' jedoch nicht nur wegen ihres inhaltlichen Ertrags, sondern weil sie sich als Text in die Bewegung des Dritten verstricken, die sie zu beschreiben versuchen. Während Simmel nämlich einerseits die Schwelle zum Sozialen als Schritt von der Zwei- zur Dreizahl markiert, muß er andererseits einräumen, daß die Ehe, die er als Prototyp der gesellschaftlich relevanten, aber eben noch vorsozialen Zweierbeziehung ansieht, ihrerseits im Regelfall von einem Dritten gestiftet wurde - eine Tatsache, die der Literatur eine Fülle an Erzählanlässen geboten hat. Aus der Schwellenkonstruktion wird auf diese Weise eine Zirkelstruktur, die den Dritten nur ableiten kann, indem sie ihn bereits voraussetzt: ein Hinweis auf den irritierenden selbstinvolutiven Charakter derartiger Triaden, der im Zusammenhang von Ursprungsnarrationen immer wieder zutagetritt. Daß der Dritte nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die logische Ordnung stört und daß eine entsprechende Theorie es mit neuartigen Subversionspotentialen zu tun hat, die das eigene Theoriedesign mitbetreffen, ist nicht die geringste Erkenntnis, die aus Michel Serres' 'Der Parasit' zu gewinnen ist. Dieses Buch führt - mit weit radikaleren Ergebnissen - Simmels Ansatz weiter.
Auch für die Analyse affektiver Strukturen ist die Dreizahl wesentlich. Die Psychoanalyse eröffnet eine Wissenschaftstradition, in der die menschliche Ontogenese, insoweit sie den Bereich des Seelenlebens betrifft, als Resultat von Triangulierungen erscheint. Während Freud sich mit der Konstruktion des Ödipuskomplexes weitgehend auf den familialen Rahmen beschränkte, hat René Girard als kritischer Freud-Leser den Mechanismus des mediated desire zum affektiven Mechanismus der Soziogenese im ganzen erklärt - nicht ohne die Freudsche Affektgrammatik umzukehren und zum Verfolgermythos der Väter zu erklären, was bei Freud noch aggressives Begehren der Söhne war, nämlich Inzest und Vatermord. Diese theoretische Bezugnahme und zugleich Umkehrung macht auf exemplarische Art deutlich, daß Triangulierungen unruhige, jederzeit affektiv umbesetzbare und hermeneutisch umdeutbare Formationen darstellen, weil sie sich, je nach Perspektive, ihrerseits in drei gegenstrebige 2+1-Relationen auflösen lassen. Es dürfte kein Zufall sein, daß gerade diese Unruhe zum Movens literarischer Experimentalanordnungen geworden ist - in erotischen Dreiecksgeschichten, in den Familiendreiecken des bürgerlichen Trauerspiels und nicht zuletzt etwa in den expressionistischen Vatermord-Dramen, die den psychoanalytischen Ödipus-Mythos mit und gegen Freud ausagieren. Inzwischen werden Überlegungen angestellt, die das trianguläre Schema über die Ebene der Narration hinaus auf das Dreieck Text-Leser-Autor ausdehnen [Bentz].
Wenn von der Figur des Dritten die Rede ist, dann ist - dies sollte deutlich geworden sein - 'Figur' nicht in einem personalen Sinn zu verstehen. Zwar mögen sich Figuren des Dritten in literarischen Helden inkorporieren, aber noch grundsätzlicher geht es dabei um die Bildung grundlegender kognitiver, affektiver und sozialer Strukturen. Es kennzeichnet derartige Strukturen, daß sie nicht allein in sich unruhig sind, sondern auch auf Seiten des Beobachters wandernde Blickpunkte und insofern eine nicht zu reduzierende Mehrdeutigkeit erzwingen. Dieser Effekt der Polyvalenz und Polyglossie, der sich im Zeichen des Dritten zuträgt, ist zumal in den Theorien des ausgehenden 20. Jahrhunderts wichtig geworden. Wenn von Figur die Rede ist, handelt es sich also immer auch um Figuration. Die aktuellen Debatten um Konzepte wie third spaces (Homi Bhabha), um hybride Kulturen (Elisabeth Bronfen), schließlich um die in den gender studies entworfene Utopie des dritten Geschlechts deuten auf die Aktualität dieser Figuration und öffnen den Figur-Begriff als solchen einer umfassenden rhetorischen Analyse.
Thirdness und third space sind jedoch nicht nur politische Phänomene, die sich aus anschwellenden Migrationsströmen, der damit verbundenen Interkulturalitätsproblematik und der Auflösung nationalstaatlicher wie ethnischer Identitätsbeglaubigungen im Zusammenhang der Globalisierung ergeben. Auch die Rechtsentwicklung befindet sich in einer Phase, in der durch die Auflösung nationalstaatlicher Rechtsnormenhierarchien bisher verdeckte Paradoxien auftauchen und der "ausgeschlossene Dritte [...] sich deutlich bemerkbar" macht [Teubner 1996, S. 236; vgl. Luhmann, 'Third Question']. Das Recht reagiert darauf bezeichnenderweise mit Verfahren, die dem Fundus der Rhetorik entstammen: durch Herstellung von Analogien, dirty practices persuasiver Selbstvalidierungen, kühnen, wenngleich bodenlosen als-ob-Konstruktionen, sprachlichen Dissimulationen und anderes mehr.
Dieser Prozeß einer gewissermaßen unfreiwilligen Kulturalisierung streng systematischer Lehrgebäude erfaßt inzwischen sogar die Selbstbeschreibung der Naturwissenschaften, die bisher durch die Zwei-Kulturen-Lehre vor derartigen Hybridformen gefeit schienen. Bruno Latour verbindet mit den von ihm so genannten immutable mobiles eine Theorie des Transfers zwischen unterschiedlichen Gegenstandswelten und Wissensordnungen [Latour]. Peter Galison entwickelt aus seinen Feldforschungen zur Kommunikation zwischen naturwissenschaftlichen Labors das Konzept der trading zone, eines dritten Bereichs an den Rändern und Übergängen der jeweiligen disziplinären Systematiken, in dem Wissen unter selbst ad hoc erst noch zu verhandelnden epistemologischen Konditionen ausgetauscht wird [Galison]. Dies sind nur zwei Beispiele dafür, daß das Vokabular von displacement und Dislozierung, Transposition und Translokalität wie überhaupt die Mode der Präfixe "trans", "inter", "para" bzw. "par" die Geschichtsschreibung der Naturwissenschaften infiltriert hat.

2.3 Narratologie

Der unter 2.2 abgeschrittene Parcours berührt den genuinen Gegenstandsbereich der Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften zum Teil nur mittelbar. Während soziale und emotionale Dreiecke schon immer ein prominenter Gegenstand der Text- und Bildproduktion waren und während der third space des Postkolonialismus eine reiche Literatur hervorgebracht hat (auf diesem Gebiet wird eine Kooperation mit dem Münchner Graduiertenkolleg 'Postcolonial Studies' angestrebt), werden nicht viele künstlerische Werke zu finden sein, die sich etwa mit den Besonderheiten postmoderner Laborkommunikationen und deren Hybridisierungseffekten befassen - womit existierende Arbeiten, etwa die Videoinstallationen von Matthew Barney, nicht marginalisiert werden sollen. Es liegt indessen nicht in der Natur des Gegenstands, das analytische Interesse auf themenrelevante Werke der Literatur- und Kunstgeschichte einzugrenzen. Im Gegenteil lädt das Thema 'Figur des Dritten' dazu ein, sich durch kulturwissenschaftlich informierte Lektüren Aufschluß über die mediale, textuelle und narratologische Verfaßtheit auch nichtliterarischer Wissensformationen zu verschaffen und auf diesem Weg einen Beitrag zu einer Forschungsrichtung zu leisten, die sich - im Anschluß an die Diskursanalyse Foucaults - mit der "Poetologie des Wissens", das heißt den po(i)etischen Bedingungen der Möglichkeit von Wissen befaßt [Vogl].
Man muß sich nicht auf die Kultur-als-Text-Debatte (Clifford Geertz u.a.) beziehen, um darauf aufmerksam zu werden, daß die Öffnung dritter, codetechnisch nicht einheitlich zu regulierender Zwischenräume innerhalb und zwischen verschiedensten Wissensgebieten Formen epistemologischer Improvisation stimuliert, die sehr oft einen verkappt erzählerischen Charakter annehmen. Läßt sich Kultur als ein Raum definieren, in dem nicht nur vielfältige Kommunikationen stattfinden, sondern die Codes der Kommunikation selbst Gegenstand von Verhandlungen sind, dann bilden die Zonen des Dritten, die sich an den Geltungsgrenzen kultureller Normierungen bzw. wissenschaftlicher Systematiken auftun, neuralgische Produktionsstätten der Kultur. Liegt die spezifische Leistung von Texten darin, daß sie Komplexität selbst unter Bedingungen diskursiver Mehrfachcodierungen, Mischformen, Hybridbildungen zu organisieren vermögen, dann ist es lohnend, literaturwissenschaftliche Verfahren auch außerhalb ihres angestammten Gegenstandsbereiches auf Knotenpunkte gesellschaftlicher Textproduktion zu beziehen. Mit der 'Figur des Dritten' kommen Mechanismen der kulturellen Codierung in den Blick, die, insofern sie einen narrativen Kern in sich bergen, in die natürliche Zuständigkeit einer genuin literarischen Analyse fallen. Während das Thema einerseits fest in der literarischen Phänomenologie verankert ist und zum Gegenstand minutiöser Literaturanalysen einlädt - weder das Romanwerk Goethes noch die Inzest-Utopie, der sich Musils 'Mann ohne Eigenschaften' hingibt, sind ohne Rücksicht auf solche ternäre Beziehungsprozesse adäquat zu verstehen -, reicht sie andererseits ins Zentrum einer auf Fragen der sozialen Intelligibilität gerichteten Kulturtheorie.
Auf vielen Feldern der sozialen Semantik werden ästhetische Motive in Anspruch genommen, die eine vieldeutige dritte Größe ins Spiel bringen: immer dort, wo von Schwellen, Ursprüngen, Enden und Grenzen die Rede ist und sich mit der Bildung und Auflösung von Polaritäten vom Typ Innen/Außen, Vorher/Nachher zugleich die Frage nach Vermittlern, diskursiven Doppelagenten und Grenzposten stellt. Nicht zufällig wurde die Diskursanalyse in den letzten Jahren durch den Begriff des trickster discourse angereichert [Vizenor u.a.], um solchen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.
Mag der Trickster eine subversive Figur sein, so bringt doch auch das Bedürfnis, gesellschaftliche Gegebenheiten politisch-juridisch zu legitimieren, erzählerische Grenzgängerschaften hervor. Rousseaus 'Contrat social' etwa ist ein Meisterstück der narrativen Bewältigung des streng logisch nicht zu bewältigenden Problems, daß der Gesetzgeber, der den Übergang der Menschheit vom Natur- zum Gesellschaftszustand bewerkstelligen soll, seiner eigenen Zeit voraus sein muß, um dieses Amt zu erfüllen. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag hat ohnehin eine ganze Serie von ausgeschlossenen/eingeschlossenen Dritten avant la lettre hervorgebracht. In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gilt Ähnliches für die regulativen Fiktionen der Politik. Wie der Gesetzgeber ist der Souverän eine Figur des Dritten, insofern er zugleich innerhalb und außerhalb der politischen Ordnung agiert - dem Trickster nicht unähnlich, obwohl er doch eine vollkommen konträre Rolle zu spielen hat. Eine politische Lektüre der europäischen Herrscherdramen des 17. und 18. Jahrhunderts könnte zeigen, daß die Literatur auf diesem Feld Paradoxien ausschreibt, die das zeitgenössische Rechts- und Staatsdenken um seines Funktionierens willen kaschiert. Die Dichtung zeitigt hier gerade kraft ihrer scheinbar funktionsentlasteten Fiktionalität einen Genauigkeitsgewinn, der durch keine andere Textsorte zu erzielen ist. Das läßt erwarten, daß eine literaturwissenschaftlich armierte Textanalyse auch die sich vervielfältigenden Fiktionalisierungseffekte heutiger sozialer Regelungssysteme aufzuspüren vermag.
Mit der Rekonstruktion 'kryptoliterarischer' Textstrategien in nichtliterarischen Diskursen ist jeweils nur der halbe Weg abgeschritten. Für die eigentlich literaturwissenschaftliche Arbeit werden die ermittelten Befunde vor allem dadurch belangvoll, daß sie sich wiederum auf die Lektüre poetischer Texte zurückbeziehen lassen. Da die Poesie ihre Versuchsanordnungen vorzugsweise über Situationen epistemologischer Offenheit oder gar Unentscheidbarkeit errichtet, kann der Blick auf fiktionale Strukturen durch die Erfahrungen mit jener gewissermaßen unfreiwilligen Literarizität innerhalb von Funktionsdiskursen geschärft werden. Man wird genauer als bisher auf die Probleme performativer Selbstvalidierung, zirkulärer Beglaubigungsformen, auf Einschlüsse/Ausschlüsse und andere 'Infektionsherde' des Dritten in der Dichtung selbst aufmerksam sein. Zwischen inner- und außerliterarischen Narrativen findet also ein Austausch in beiden Richtungen statt. Wenn Michel Serres seine Theorie des Parasiten, die auch eine Wirtschafts- und Geldtheorie ist, aus einer (eigenwilligen) Interpretation der Fabeln Lafontaines entwickelt, dann eignet sich umgekehrt der Begriff des Parasiten dazu, der Symbolökonomie von Dichtungen neue Aspekte abzugewinnen. Weitgehender noch haben Kategorien der Dekonstruktion, die im Rahmen einer philosophischen Kritik an metaphysischen Binarismen entwickelt wurden, auf das tiefere Verständnis poetischer Zeichenprozesse zurückgewirkt. Schwelle, Liminalität, rite de passage, Hybridisierung, Mittler, Trickster schließlich sind umlaufende Stichworte, die im Dreieck zwischen Ethnologie, Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften und literarischer Erzähltechnik vielfache Resonanzen erzeugen. Hier kann eine teilweise out of area operierende Literaturwissenschaft ihre ureigenen analytischen Instrumente in verfremdetem Licht wiederfinden.