Programm und Ziele des Forschungsprojekts (ausführliche Fassung)

1. Zusammenfassung


2. Forschungsprogramm

2.1 Übersicht


2.2 Zur Methode

2.2.1 Disziplinäre Grundlage
2.2.2 Epistemologie. Historische Semantik des Dritten
2.2.3 Narratologie

2.3 Forschungsfelder
2.3.1 Zulassung und Betreuung von Dissertationsprojekten

2.3.2 Philosophisch-theologische Figuren des Dritten im Mittelalter
2.3.3 Die Figur des Dritten in Theorien des Sozialen und des Begehrens
2.3.4 Der Dritte als narratologische Größe; Metaphorologie, Poetologie
2.3.5 Thirdness, third space
2.3.6 Das dritte Geschlecht
2.3.7 Die Figur des Dritten in der Slavia
2.3.8 Epistemologie des Dritten im 20. Jahrhundert
2.3.9 Figurationen des Dritten in der Kunst und in den Medien

 

1. Zusammenfassung

In vielen kulturwissenschaftlich relevanten Theorien des 20. Jahrhunderts spielen Dreierkonstellationen eine auffallende Rolle. Das Spektrum reicht von der soziologischen Arithmetik Georg Simmels und von der Psychoanalyse als Theorie affektiver Triangulierungen bis zu den Differenztheorien der neuesten Zeit (Luhmann, Derrida, Serres), die auf epistemologischem Niveau dritte Größen einführen, durch die gängige dichotomische Unterscheidungs- und Ordnungsschemata unterlaufen werden. Die gender-Theorie verwendet zur Überwindung der Geschlechterpolarität den Begriff des dritten Geschlechts, während Konzepte von third space und kultureller Hybridität durch die Debatte um Postkolonialismus und Globalisierung Aktualität erlangt haben. Trotz unterschiedlicher Kontexte zeichnet sich dabei eine allen Ausprägungen gemeinsame Doppelkonditionierung des Dritten ab. Er ist ein Zwitterwesen, das ebenso trennt wie verbindet, sowohl als Störer wie als Mittler fungiert und dadurch gleichermaßen aus der Ordnung ausgeschlossen wie in sie eingeschlossen ist – eine Charakteristik, die es erlaubt, von der Figur des Dritten zu sprechen.

Die Literatur ist mit diesem Phänomen auf doppelte Weise befasst. Zum einen hat sie es seit jeher mit dem zweideutigen Personal von Rivalen, Boten, Dolmetschern sowie mit dem weiten Feld sprachlicher Techniken des Sowohl-als-auch, der Ambivalenz und Paradoxierung zu tun und lässt sich deshalb im Hinblick auf eine historische Semantik der Figurationen des Dritten befragen. Im Weiteren treten jedoch die subversiven Effekte, die durch Intervention dritter Instanzen hervorgebracht werden, auch in außerliterarischen Wissensordnungen auf. Sie legen generelle Mechanismen der kulturellen Semiosis frei, die mit dem Instrumentarium der Literaturwissenschaft untersucht werden können. Das Thema verbindet also zwei Dimensionen: Das Studium entsprechender literarischer Narrative leitet dazu an, den kulturellen Umgang mit kategorialen Zwischenzonen und Mischformen überhaupt einer rhetorisch-narratologischen Analyse zu unterziehen.

Das geplante Kolleg ist durch Kooperationen mit den Universitäten Zürich, Basel, der Johns Hopkins University und der University of Chicago international ausgerichtet. Es soll die Graduierten von der Basis literaturwissenschaftlicher Themenstellungen aus in Zusammenhänge einer kulturtheoretischen Grundlagenforschung einführen. Das schließt eine disziplinär fundierte Transdisziplinarität ein. Sie dient dem Ziel, über die Stammkompetenz der beteiligten Fächer hinaus die Funktionsweise kultureller Codes in der Wissensgesellschaft zu reflektieren und damit eine für eine wachsende Zahl von Berufsfeldern wichtige Fähigkeit auszubilden.


2. Forschungsprogramm

2.1 Übersicht

Auf der Bühne der Epistemologie ist es im 20. Jahrhundert zu einer signifikanten Umbesetzung gekommen. Ins Rampenlicht der Theoriebildung tritt eine Gestalt, die bis dahin weitgehend zu einer Existenz off stage verurteilt war. Wenn überhaupt, dann durfte sie nur kurze Gastspiele geben, die meist mit einem Eklat endeten. Das hat sich geändert, seit neue Theorien den Spielplan bestimmen. Aus dem einstigen Spukwesen ist eine Schlüsselfigur geworden, die zwar ihren Mitspielern nicht ganz geheuer ist, aber von ihnen nichtsdestoweniger auf fast ehrerbietige Weise anerkannt wird.

Es handelt sich um die Figur des Dritten. Während die klassische abendländische Epistéme binär organisiert war und das Dritte regulär nur in der Form des Übergangs oder der Verbindung zu höherer Einheit zu denken vermochte – und nicht als Größe, die neben den beiden Termen dualistischer Semantiken vom Typ wahr/falsch, Geist/Materie, Gott/Welt, gut/böse, Kultur/Natur, innen/außen, eigen/fremd bestehen bleibt –, räumen alle neueren Theorien, die sich auf der Ebene der kulturellen Semiosis bewegen, der Instanz des Dritten eine entscheidende Rolle ein. Das gilt für den Begriff des Parasiten bei Michel Serres; für die Einführung dritter, den Binarismus der Metaphysik unterwandernder Größen in der Dekonstruktion (différance, Spiel, Chōra usw.); für Niklas Luhmann und seine kybernetische Systemlogik, die in Erweiterung oder gar Überwindung der aristotelischen Logik ein »tertium datur« zu denken versucht und auf diese Weise einen neuen Umgang mit systemischen ›Fehlermeldungen‹ (Paradoxie, Tautologie) ermöglicht.

Dieser epistemologische Regiewechsel erfasst auf weniger abstraktem Niveau die kurrenten Theorien des Psychischen und Sozialen. Denn auch die Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen ist nicht mehr aus Gegensätzen und der Dynamik ihrer Schlichtung, sondern aus persistenten, in keine Einheit rückführbaren, sich vielmehr selbstähnlich fortpflanzenden oder multiplizierenden Dreiecken zusammengebaut. Und auch hier gilt, dass der Dämon der alten Welt der Heros der neuen ist – was nicht bedeutet, dass man seine dämonischen Ursprünge vergisst. Die Störfaktoren von gestern haben sich in soziale Operatoren von heute verwandelt.

Die Liste der neuen Protagonisten ist lang. So wurde der Trickster, jener unzuverlässige, listige, teils bösartige und teils schelmische Doppelagent zwischen zwei Welten, den jedes einigermaßen geordnete Götterregiment auszuschalten versuchte, inzwischen zur Ikone des Interkulturalitätsparadigmas erhoben. Der Bote, der sich eigenmächtig verhält und sich dadurch als verfälschenden Dritten zwischen Absender und Empfänger ins Spiel bringt, hat einen Ehrenplatz in den gängigen Medientheorien erhalten. Der Dolmetscher, dessen Übersetzungen auf ihrem Eigensinn insistieren und dadurch die intendierte Verständigung gefährden, kann sich mittlerweile zur Avantgarde der Sprachtheorie zählen. Und schließlich hat der Rivale, der seit jeher das Duett der Liebenden in Missklang versetzte und dafür zumeist mit dem Leben bezahlte, die Schlüsselrolle in den Theorien des Begehrens eingenommen. Kein Liebesbündnis und kein erotisches Begehren, die nicht in einer triangulären Dynamik prozessiert würden, in der die Figur des Nebenbuhlers die Hauptrolle spielt. Die Psychoanalyse wird inzwischen in Richtung auf eine allgemeine Theorie der Triangulierung weitergeschrieben; und mit René Girard ist der Rivale ins Zentrum der sozialanthropologischen Modellbildung getreten.

Girard deutet mit seinem ersten, inzwischen ins Deutsche übersetzten Buch ›Mensonge romantique et vérité romanesque‹ (Paris 1961) auf die literarische Genealogie einer solchen Logik des Dritten hin. In der Tat ist die Affinität dieses die großen Systematiken verunreinigenden Zwitterwesens zu literarisch-künstlerischen Darstellungsweisen augenfällig. Das liegt zum einen daran, dass an den Rändern des systematisierten Wissens die Übergänge zwischen diskursivem und narrativem Sprechen fließend werden. Zum anderen wohnt triangulären Konstellationen aller Art eine beträchtliche poetische Produktivität inne. Die Literaturgeschichte verfügt über einen eigenen, reichen Erfahrungsschatz im Umgang mit komplexen trichonomischen Strukturen, was seit jeher andere Wissensfelder, die den epistemologischen Irritationen dritter Instanzen der Ordnung/Unordnung ausgesetzt sind, zum ›Import‹ ihrer sprachlich-erzählerischen Verfahren veranlasste. Entsprechend sind hier die Analyseverfahren der Literaturwissenschaft gefordert.

Wie in der Theorie ist in der Literatur der/die/das Dritte eine sowohl produktive als auch prekäre Figur. Sie eignet sich deshalb in besonderem Maß als Kategorie einer einlässlichen Rekonstruktion von Begehrens- und Übertragungsbeziehungen innerhalb von Erzählwerken und Dramen. Dies hat in epochenübergreifender, komparatistischer Perspektive zu geschehen. Die Untersuchung literarischer bzw. bild- und medienästhetischer Dreierkonstellationen, die nicht nur die Handlungsebene, sondern auch Struktur und mediale Verfasstheit von Kunstwerken einbezieht, wird den Arbeitsschwerpunkt des geplanten Graduiertenkollegs bilden. Sie soll der Ausbildung einer textanalytischen Kernkompetenz und damit eines methodischen Instrumentariums dienen, die sodann auf allgemeinere kultursemiologische Zusammenhänge anwendbar sind.

2.2 Zur Methode

2.2.1 Disziplinäre Grundlage

Das Graduiertenkolleg geht bewusst neue Wege. Anders als in den Geisteswissenschaften bisher üblich und auch abweichend von dem GK »Theorie der Literatur und Kommunikation«, das von 1991–2001 in Konstanz angesiedelt war, soll die Verbindung zwischen den einzelnen Dissertations- und Postdoc-Projekten nicht vorwiegend durch Subsumption unter ein allgemeines Dachthema erfolgen. Die Wahl des Titels ›Die Figur des Dritten‹ ist vielmehr im Vertrauen auf die integrierende Kraft des Begriffs der Figur selbst erfolgt, der drei Komponenten enthält: das konstruktive Moment der Figuration, das rhetorische Moment der Figuralität und das narrative Moment der Figur, das unter bestimmten Umständen einen personalen Charakter annehmen kann. In rein stofflicher Hinsicht ist das Spektrum an Phänomenen des Dritten sehr breit. Der Titel des geplanten Kollegs ist jedoch mit Bedacht im Singular gehalten, weil den gemeinsamen Fokus, in dem sich alle Projekte treffen und über den sie in Austausch miteinander treten, die weiter unten genauer zu skizzierende Logik/Narratologik ›des‹ Dritten bilden soll. Das lässt Freiheiten, was die historisch-materiale Ausrichtung der jeweiligen Forschungen angeht; es setzt andererseits als verbindliche Zulassungsregel voraus, dass alle im Rahmen des Kollegs bearbeiteten Projekte sich um eine – heuristisch anzunehmende – Achse gruppieren, die durch die formalen, epistemologischen und (im weitesten Sinn) erzähltechnischen Konstituentien der in Rede stehenden Figur gegeben ist.

Insofern die Figur des Dritten, auf welchem diskursiven Feld auch immer sie sich bildet, einer textanalytisch und rhetorisch geschulten Beobachtung bedarf, fällt sie in die Zuständigkeit der Literaturwissenschaft. Das Graduiertenkolleg knüpft in seiner Ausrichtung auf kulturtheoretische Grundlagenforschung an die Tradition der Konstanzer Literaturwissenschaft (Rezeptionsästhetik, Intertextualität, Rhetorik, literarische Anthropologie, Gedächtnisforschung) an. Sie geht auf diesem Weg jedoch insofern einen Schritt weiter, als die Aufmerksamkeit stärker als bisher auf die literarische Faktur auch nichtliterarischer Formationen des Wissens gerichtet werden soll. Das erfordert im Einzelfall Transdisziplinarität über den Bereich der Geisteswissenschaften hinaus, vor allem dort, wo mit den wissens- auch wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen in den Blick kommen.

Es wäre unredlich, sich nicht über die Risiken Rechenschaft abzulegen, die mit einer solchen Vorgehensweise verbunden sind. Zwei Dinge müssen gewährleistet bleiben: Erstens, dass die entstehenden Dissertationen von einer festen fachlichen Basis ausgehen und auch in ihrer gegebenenfalls transdisziplinären Anlage methodologisch abgesichert sind; und zweitens, dass die Arbeiten klare thematische Konturen behalten und zügig zum Abschluss gebracht werden können. – Indessen werden die Risiken der Transdisziplinarität (die allgemein die derzeitige Situation der Kulturwissenschaften prägen) durch beträchtliche Chancen aufgewogen. Zu diesen Chancen zählen:

–   die Exploration weitreichender Perspektiven grundlagentheoretischer Art, für die ein konzertiertes Promotionsstudium, das durch die engagierten Forschungen der beteiligten Hochschullehrer flankiert wird, den günstigsten Rahmen bietet;

– eine methodologische Neubestimmung der Literatur- und Medienwissenschaften, die darauf abzielt, diesen eine Schlüsselrolle in der Analyse grundlegender Mechanismen der kulturellen Wissensorganisation zu sichern und sie damit für die Selbstbeschreibung der heutigen Wissensgesellschaft geeignet zu machen;

–   die aktive Mitwirkung der Kollegiaten am Aufbau einer diesbezüglichen internationalen Forschungsinfrastruktur;

–   die aus diesen Bestrebungen resultierende akademische Qualifikation;

–   schließlich die Entwicklung einer Sensibilität für die Funktionsweise kultureller Codes, die auf vielen Berufsfeldern im Kulturbereich nutzbringend ist.

Das Graduiertenkolleg wird mehrheitlich vom Fachbereich Literaturwissenschaft der Universität getragen, der Kunst- und Medienwissenschaft einschließt. Durch die enge Kooperation mit dem Fachbereich Geschichte und Soziologie ist ein Lehr- und Betreuungsangebot auch im Hinblick auf die große Bedeutung gewährleistet, die der Figur des Dritten in der Beschreibung soziohistorischer Prozesse zukommt. Die Vernetzung mit vier namhaften Universitäten in der Schweiz und in den USA sowie die Kooperationsabsprachen mit KollegInnen an deutschen Hochschulen erweitern das Spektrum fachlicher Kompetenzen. Sie sollen während der Laufzeit des Graduiertenkollegs noch erheblich intensiviert werden. Der (teilweise englischsprachige) Austausch mit ausländischen Kooperationspartnern und Graduierten wird aller Erfahrung nach beträchtlich zur frühzeitigen Professionalisierung der Graduierten beitragen und ihren Horizont für internationale Theorieentwicklungen öffnen.

Die einzigartige Struktur des Fachbereichs Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz, der alle Philologien sowie die Kunst- und Medienwissenschaft zusammenschließt, bietet schon auf rein organisatorischer Ebene eine gute Grundlage für kontrollierte Interdisziplinarität. Die laufenden Planungen für die Umstellung auf BA/MA-Studiengänge werden diese Grundlage noch weiter konsolidieren. Dies schafft günstige Voraussetzungen für die Fortentwicklung kulturwissenschaftlicher Theorien, die unterschiedliche Fachtraditionen zusammenführen. Während sich die am Kolleg beteiligten Graduierten auf die sachlichen Herausforderungen ihrer jeweiligen Projekte konzentrieren, soll das umfassende, in wesentlichen Teilen von den Hochschullehrern getragene Forschungsprogramm förderliche methodologische Rahmenbedingungen für die Einzelforschungen herstellen.

2.2.2 Epistemologie. Historische Semantik des Dritten

Differenztheoretisch entstehen ›Effekte des Dritten‹ immer dann, wenn intellektuelle Operationen nicht mehr bloß zwischen den beiden Seiten einer Unterscheidung oszillieren, sondern die Unterscheidung als solche zum Gegenstand und Problem wird. Zu den jeweils unterschiedenen Größen tritt die Tatsache der Unterscheidung wie ein Drittes hinzu, das keine eigene Position innehat, aber die Positionen auf beiden Seiten der Unterscheidung ins Verhältnis setzt, indem sie sie zugleich verbindet und trennt – ein Drittes, das binäre Codierungen allererst möglich macht, während es selbst als konstituierender Mechanismus gewöhnlich im Verborgenen bleibt.

Als Arbeitshypothese soll gelten, dass diese Wendung der Perspektive auf das konstituierende Dritte ›zwischen‹ binär aufeinander bezogenen Größen, mit anderen Worten: die Problematisierung der Unterscheidung als Unterscheidung, ein Phänomen darstellt, das in der Moderne besonders vordringlich geworden ist. Systemtheoretisch gesprochen geht es hier um Beobachtung zweiter Ordnung, das heißt um die Beobachtung von Beobachtungsweisen, die auch in den Periodisierungen der Luhmann-Schule ein Charakteristikum der Moderne darstellt. Das bedeutet keineswegs, dass nicht auch vormoderne Semantiken eine hohe Sensibilität für die Paradoxieanfälligkeit binärer Ordnungen, für Probleme der Grenzziehung, des Übergangs und der Vermischung zwischen opponierenden Bedeutungsfeldern besaßen. Indessen ist ihr allgemeiner, sozusagen offizieller Integrationsmodus von einer Art gewesen, die das Problem des Dritten im differenztheoretischen Sinn – als Eingeschlossenes/Ausgeschlossenes der Unterscheidung – nicht im gleichen Ausmaß aufgeworfen zu haben scheint.

Traditionelle duale Semantiken gewährleisten die Einheit ihrer Unterscheidungen dadurch, dass jeweils eine Seite das Ganze mitrepräsentiert: die scheinbare Parität zwischen den Gegensätzen (die auf Unentscheidbarkeit hinauslaufen würde) wird von einer funktionellen Asymmetrie durchbrochen, insofern einer der beiden Werte als großer Term figuriert, der den anderen, kleinen Term, dem er gegenübersteht, zugleich auch umschließt.

So tritt in theologischer Perspektive Gott als Schöpfer der Welt aus sich heraus und schafft damit allererst die Möglichkeit zur Differenz, das heißt zum Entstehen diskreter Wesenheiten; aber die Spaltung zwischen Schöpfer und Schöpfung ist in der Universalität Gottes zugleich von Anbeginn aufgehoben. Entsprechend beruhen die klassischen Morallehren darauf, dass der Gegensatz und die wechselseitige Relativierung von Gut und Böse ihrerseits eingefasst sind in einer guten und ordnungsgemäßen Einrichtung der Welt, auf die das Handeln des Menschen normativ verpflichtet werden kann. Auf gleiche Weise stellen metaphysische Systeme die Einheit der Welt sicher, indem sie in ihren begrifflichen Dualitäten jeweils einen Term privilegieren – etwa den Geist, der seinen Gegensatz, die Materie, umgreift und so die Welt davor bewahrt, manichäisch in zwei unversöhnliche Gegenkräfte zu zerfallen. Noch die Dialektik des deutschen Idealismus begreift Differenz als Ausfaltung einer (vorgängigen) Einheit, die in einer der beiden Seiten des dialektischen Widerspruchs – Vernunft, Ich, Subjekt – potentiell schon enthalten ist und sich nach Durchlaufen eines geistigen bzw. weltgeschichtlichen Aneignungsprozesses in actu vollzieht. Politisch virulent werden solche Formen konfliktueller Einheitsstiftung spätestens dann, wenn sie auf die Differenz Eigenes/Fremdes Anwendung finden. Die kulturelle Konfrontation zwischen Europa und der nichteuropäischen Welt war nach diesem Schema modelliert, das sich im Kolonialdiskurs, angefangen von der christlichen Missionierung bis hin zu noch heute anhängigen normativen Vorstellungen von Zivilisation und ›Entwicklung‹, manifestierte.

Eine Semantik, die dem heterarchischen und polyzentrischen Charakter moderner Gesellschaften Rechnung trägt, kann nicht mehr auf solchen hegemonialen Unifizierungen aufbauen. Hält sie am Grundmuster binärer Codierung fest, so wird es ihr doch unmöglich, zwischen dem einen Term der jeweils getroffenen Unterscheidung und der Einheit der Unterscheidung ein Verhältnis der Synekdoche zu konstruieren. Damit ist das herkömmliche Schema der Inklusion der Teile ins Ganze überhaupt außer Geltung gesetzt. Umso schärfer stellt sich nun die Frage nach dem konstituierenden, sowohl verbindenden wie trennenden Dritten der Zweiheit.

Die alteuropäische Semantik hatte mit ihren Dualismen stets eine hochelaborierte Metaphysik der Dreizahl mitgeführt: vom christlichen Dogma der Trinität bis hin zu den neuplatonischen Triaden, die in der Renaissance wieder zu großer Bedeutung gelangen (Samsonow 1998). In dieser Zahlensymbolik war die Dreizahl gewöhnlich dazu ausersehen, die Entzweiung der Welt zu überwinden und eine als vorgängig verstandene Einheit zu restituieren. Das gilt ebenso für die Dreischrittmodelle, die von der Aufklärung bis zu Comte und Marx geschichtsphilosophisch grundlegend sind. Daneben gab es das Dritte durchaus auch als Kategorie einer kritischen, die Ordnung der Welt bedrohenden Größe: überall dort, wo Mischungen und Bastardisierungen binärer Zurechnungskategorien, groteske Missbildungen, monströse Zwittergeschöpfe und -welten in den Blick kamen. Bestimmte Strömungen und Epochen, insbesondere der europäische Manierismus, scheinen geradezu davon besessen, die Organisationskraft dichotomischer Begriffs- und Wertordnungen durch Konstruktion ›dritter Fälle‹ an ihre Grenze und darüber hinauszutreiben.

Alles in allem jedoch blieben dies Ausnahmen in einem Universum von Regeln, das in seinem Bestand nicht oder nur sporadisch-krisenweise gefährdet war. Abweichend verhält es sich mit den Denkweisen des Dritten, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Hier wird der Ausnahmezustand gewissermaßen auf Dauer gestellt. Wenn in der Begegnung zweier Parteien keine von beiden Seiten einen hegemonialen Anspruch mehr geltend machen kann – einen Anspruch, der das Andere in das Eigene zurückführt und den Gegensatz als Derivat einer übergreifenden Ordnung ansieht, die mit der eigenen übereinstimmt – dann ist eine neue Grammatik kultureller und epistemologischer Verhandlungen notwendig, die mit herkömmlichen Mitteln nicht zu gewinnen ist. Dass der ›epistemologische Ausnahmezustand‹, den das späte 20. Jahrhundert ausgerufen hat, nicht als bloßes Durchgangsstadium von einer identitären Ordnung zur anderen aufgefasst werden kann, kann ein semantikgeschichtlicher Vergleich zeigen. Während neuzeitliche Kategorien wie Monstrosität oder Groteske ihren Sinn oder Unsinn daher beziehen, dass sie aus der Ordnung der Dinge ausscheren (in Form taxonomischer Verwirrung oder eines karnevalesken Zwischenspiels), ist das etymologisch ja verwandte Konzept der Hybridität, wie es heute weltweit diskutiert wird, ganz anders geartet: es versteht ›Zwischen-Sein‹ auf allen soziokulturellen Ebenen als Signum einer paradoxen, weil nicht mehr normierbaren ›Normalität‹ der (Post-)Moderne.

Wie grundlegend dieser Wandel ist, lässt der Abstraktions- und Komplexitätsgrad der theoretischen Modelle erkennen, die so etwas wie eine transbinäre Grammatik dritter Räume zu entwerfen versuchen. Es gibt Grund zu der Vermutung, dass die entscheidende epistemologische Bruchlinie innerhalb der deutschen Philosophiegeschichte irgendwo zwischen Hegel und Marx einerseits, Kierkegaard und Nietzsche andererseits verläuft. Was den Umbau hierarchisch gestufter Kategoriensysteme zu Modellen einer pluralen und heterarchischen Wissenslandschaft betrifft, ist Wittgensteins Theorie des Sprachspiels zu nennen, auf die Lyotard in seinem programmatischen Buch ›La condition postmoderne‹ zurückgreift. Im angelsächsischen Raum kommen der Übersetzungstheorie (Quine) und insbesondere Peirces Semiotik Bedeutung zu – Peirce hat man ja unlängst sogar »Triadomania« vorgeworfen (Spinks 1991). Peirces Logik dürfte unter allen Entwürfen einer dreiwertigen Logik derjenige sein, der sich am ehesten mit kulturwissenschaftlichen Denkformen verbinden ließe. Im theoretischen Orbit des Poststrukturalismus schließlich ist die Referenzdichte auf Figuren/Strukturen des Dritten besonders hoch – angefangen von Lévinas’ Meditationen über Alterität bis hin zu den zahlreichen identitäts- und metaphysikkritischen Konzepten, die derzeit die Methodenreflexion der Kulturwissenschaften beherrschen.

Es ist aber innovativer und wird das in der Thematik enthaltene Risiko eines fruchtlosen Theorie-Selbstläufertums kontrollierbar machen, wenn man der Vielzahl und den konkreten Gegebenheiten der epistemischen Regimes Rechnung trägt, die gleichsam vom Gespenst des Dritten heimgesucht werden. Hier öffnet sich das Thema einer wissenschaftsgeschichtlichen Bestandsaufnahme, die trotz der Diversität der einzelnen Wissensmilieus vermutlich allenthalben ganz ähnliche Probleme antreffen wird.

Von der Soziologie als einem sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts konstituierenden Fach kann mit geringer Übertreibung gesagt werden, dass sie ihren Gegenstandsbereich der Dreizahl verdankt. Gründungsurkunde der soziologischen Figur des Dritten sind Georg Simmels ›Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung‹ von 1908. Simmel sieht die Zweierbeziehung als vorsoziale Relation an. Erst das Hinzutreten des Dritten lässt Gesellschaft als Gesellschaft emergieren und setzt Prozesse sozialer Objektivation in Gang, die über die Sphäre einer reziproken, jederzeit auf Personen zurechenbaren Interaktivität hinausgehen. Auf Simmels Typologie des Dritten – er diskutiert den Unparteiischen, den Vermittler, den tertius gaudens, das Prinzip des divide et impera im Hinblick auf die »Zahlverhältnisse der Vergesellschaftung« (Simmel 1908, 98) – greifen Studien zur Gruppen- und Familiensoziologie (Allert 1998 u.a.) und neuerdings mentalitätsgeschichtliche Arbeiten zurück (Fett 2000).

Von besonderem Interesse sind Simmels ›Untersuchungen‹ jedoch nicht nur wegen ihres inhaltlichen Ertrags, sondern weil sie sich als Text in die Bewegung des Dritten verstricken, die sie zu beschreiben versuchen. Während Simmel nämlich einerseits die Schwelle zum Sozialen als Schritt von der Zwei- zur Dreizahl markiert, muss er andererseits einräumen, dass die Ehe, die er als Prototyp der gesellschaftlich relevanten, aber eben noch vorsozialen Zweierbeziehung ansieht, ihrerseits im Regelfall von einem Dritten gestiftet wurde – eine Tatsache, die der Literatur eine Fülle an Erzählanlässen geboten hat. Aus der Schwellenkonstruktion wird auf diese Weise eine Zirkelstruktur, die den Dritten nur ableiten kann, indem sie ihn bereits voraussetzt: ein Hinweis auf den irritierenden selbstinvolutiven Charakter derartiger Triaden, der im Zusammenhang von Ursprungsnarrationen immer wieder zutage tritt. Dass der Dritte nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die logische Ordnung stört und dass eine entsprechende Theorie es mit neuartigen Subversionspotentialen zu tun hat, die das eigene Theoriedesign mitbetreffen, ist nicht die geringste Erkenntnis, die aus Michel Serres’ ›Der Parasit‹ zu gewinnen ist. Dieses Buch führt – mit weit radikaleren Ergebnissen – Simmels Ansatz weiter.

Auch für die Analyse affektiver Strukturen ist die Dreizahl wesentlich. Die Psychoanalyse eröffnet eine Wissenschaftstradition, in der die menschliche Ontogenese, insoweit sie den Bereich des Seelenlebens betrifft, als Resultat von Triangulierungen erscheint. Während Freud sich mit der Konstruktion des Ödipuskomplexes weitgehend auf den familialen Rahmen beschränkte, hat René Girard als kritischer Freud-Leser den Mechanismus des mediated desire zum affektiven Mechanismus der Soziogenese im ganzen erklärt – nicht ohne die Freudsche Affektgrammatik umzukehren und zum Verfolgermythos der Väter zu erklären, was bei Freud noch aggressives Begehren der Söhne war, nämlich Inzest und Vatermord. Diese theoretische Bezugnahme und zugleich Umkehrung macht auf exemplarische Art deutlich, dass Triangulierungen unruhige, jederzeit affektiv umbesetzbare und hermeneutisch umdeutbare Formationen darstellen, weil sie sich, je nach Perspektive, ihrerseits in drei gegenstrebige 2+1-Relationen auflösen lassen. Es dürfte kein Zufall sein, dass gerade diese Unruhe zum Movens literarischer Experimentalanordnungen geworden ist – in erotischen Dreiecksgeschichten, in den Familiendreiecken des bürgerlichen Trauerspiels und nicht zuletzt etwa in den expressionistischen Vatermord-Dramen, die den psychoanalytischen Ödipus-Mythos mit und gegen Freud ausagieren. Inzwischen werden Überlegungen angestellt, die das trianguläre Schema über die Ebene der Narration hinaus auf das Dreieck Text–Leser–Autor ausdehnen (Bentz 1998).

Wenn von der Figur des Dritten die Rede ist, dann ist – dies sollte deutlich geworden sein – ›Figur‹ nicht in einem personalen Sinn zu verstehen. Zwar mögen sich Figuren des Dritten in literarischen Helden inkorporieren, aber noch grundsätzlicher geht es dabei um die Bildung grundlegender kognitiver, affektiver und sozialer Strukturen. Es kennzeichnet derartige Strukturen, dass sie nicht allein in sich unruhig sind, sondern auch auf Seiten des Beobachters wandernde Blickpunkte und insofern eine nicht zu reduzierende Mehrdeutigkeit erzwingen. Dieser Effekt der Polyvalenz und Polyglossie, der sich im Zeichen des Dritten zuträgt, ist zumal in den Theorien des ausgehenden 20. Jahrhunderts wichtig geworden. Wenn von Figur die Rede ist, handelt es sich also immer auch um Figuration. Die aktuellen Debatten um Konzepte wie third space (Homi Bhabha), um hybride Kulturen (Elisabeth Bronfen), schließlich um die in den gender studies entworfene Utopie des dritten Geschlechts deuten auf die Aktualität dieser Figuration und öffnen den Figur-Begriff als solchen einer umfassenden rhetorischen Analyse.

Thirdness und third space sind jedoch nicht nur politische Phänomene, die sich aus anschwellenden Migrationsströmen, der damit verbundenen Interkulturalitätsproblematik und der Auflösung nationalstaatlicher wie ethnischer Identitätsbeglaubigungen im Zusammenhang der Globalisierung ergeben. Auch die Rechtsentwicklung befindet sich in einer Phase, in der durch die Auflösung nationalstaatlicher Rechtsnormenhierarchien bisher verdeckte Paradoxien auftauchen und der »ausgeschlossene Dritte […] sich deutlich bemerkbar« macht (Teubner 1996, 236; vgl. Luhmann 1988). Das Recht reagiert darauf bezeichnenderweise mit Verfahren, die dem Fundus der Rhetorik entstammen: durch Herstellung von Analogien, dirty practices persuasiver Selbstvalidierungen, kühnen, wenngleich bodenlosen als-ob-Konstruktionen, sprachlichen Dissimulationen und anderes mehr.

Dieser Prozess einer gewissermaßen unfreiwilligen Kulturalisierung streng systematischer Lehrgebäude erfasst inzwischen sogar die Selbstbeschreibung der Naturwissenschaften, die bisher durch die Zwei-Kulturen-Lehre vor derartigen Hybridformen gefeit schienen. Bruno Latour verbindet mit den von ihm so genannten immutable mobiles eine Theorie des Transfers zwischen unterschiedlichen Gegenstandswelten und Wissensordnungen (Latour 1987). Peter Galison entwickelt aus seinen Feldforschungen zur Kommunikation zwischen naturwissenschaftlichen Labors das Konzept der trading zone, eines dritten Bereichs an den Rändern und Übergängen der jeweiligen disziplinären Systematiken, in dem Wissen unter selbst ad hoc erst noch zu verhandelnden epistemologischen Konditionen ausgetauscht wird (Galison 1997). Hans-Jörg Rheinberger rekurriert auf Derridas Begriff der Spur, um wie schon Ludwik Fleck in den dreißiger Jahren (Fleck 1993), ein Drittes zwischen Wissenschaftsrealismus und Konstruktivismus denken zu können (Rheinberger 2001). Dies sind nur einige Beispiele dafür, dass das Vokabular von displacement und Dislozierung, Transposition und Translokalität wie überhaupt die Mode der Präfixe »trans«, »inter«, »para« bzw. »par« die Geschichtsschreibung der Naturwissenschaften infiltriert hat.

2.2.3 Narratologie

Der unter 2.2.2 abgeschrittene Parcours berührt den genuinen Gegenstandsbereich der Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften zum Teil nur mittelbar. Während soziale und emotionale Dreiecke schon immer ein prominenter Gegenstand der Text- und Bildproduktion waren und während der third space des Postkolonialismus eine reiche Literatur hervorgebracht hat (auf diesem Gebiet wird eine Kooperation mit dem Münchner Graduiertenkolleg »Postcolonial Studies« angestrebt), werden nicht viele künstlerische Werke zu finden sein, die sich etwa mit den Besonderheiten postmoderner Laborkommunikationen und deren Hybridisierungseffekten befassen – womit existierende Arbeiten, etwa die Videoinstallationen von Matthew Barney, nicht marginalisiert werden sollen. Es liegt indessen nicht in der Natur des Gegenstands, das analytische Interesse auf themenrelevante Werke der Literatur- und Kunstgeschichte einzugrenzen. Im Gegenteil lädt das Thema ›Figur des Dritten‹ dazu ein, sich durch kulturwissenschaftlich informierte Lektüren Aufschluss über die mediale, textuelle und narratologische Verfasstheit auch nichtliterarischer Wissensformationen zu verschaffen und auf diesem Weg einen Beitrag zu einer Forschungsrichtung zu leisten, die sich – im Anschluss an die Diskursanalyse Foucaults – mit der »Poetologie des Wissens«, das heißt den po(i)etischen Bedingungen der Möglichkeit von Wissen befasst (Vogl 1997).

Man muss sich nicht auf die Kultur-als-Text-Debatte (Clifford Geertz u.a.) beziehen, um darauf aufmerksam zu werden, dass die Öffnung dritter, codetechnisch nicht einheitlich zu regulierender Zwischenräume innerhalb und zwischen verschiedensten Wissensgebieten Formen epistemologischer Improvisation stimuliert, die sehr oft einen verkappt erzählerischen Charakter annehmen. Lässt sich Kultur als ein Raum definieren, in dem nicht nur vielfältige Kommunikationen stattfinden, sondern die Codes der Kommunikation selbst Gegenstand von Verhandlungen sind, dann bilden die Zonen des Dritten, die sich an den Geltungsgrenzen kultureller Normierungen bzw. wissenschaftlicher Systematiken auftun, neuralgische Produktionsstätten der Kultur. Liegt die spezifische Leistung von Texten darin, dass sie Komplexität selbst unter Bedingungen diskursiver Mehrfachcodierungen, Mischformen, Hybridbildungen zu organisieren vermögen, dann ist es lohnend, literaturwissenschaftliche Verfahren auch außerhalb ihres angestammten Gegenstandsbereiches auf Knotenpunkte gesellschaftlicher Textproduktion zu beziehen. Mit der ›Figur des Dritten‹ kommen Mechanismen der kulturellen Codierung in den Blick, die, insofern sie einen narrativen Kern in sich bergen, in die natürliche Zuständigkeit einer genuin literarischen Analyse fallen. Während das Thema einerseits fest in der literarischen Phänomenologie verankert ist und zum Gegenstand minutiöser Literaturanalysen einlädt – weder das Romanwerk Goethes noch die Inzest-Utopie, der sich Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹ hingibt, sind ohne Rücksicht auf solche ternäre Beziehungsprozesse adäquat zu verstehen –, reicht es andererseits ins Zentrum einer auf Fragen der sozialen Intelligibilität gerichteten Kulturtheorie.

Auf vielen Feldern der sozialen Semantik werden ästhetische Motive in Anspruch genommen, die eine vieldeutige dritte Größe ins Spiel bringen: immer dort, wo von Schwellen, Ursprüngen, Enden und Grenzen die Rede ist und sich mit der Bildung und Auflösung von Polaritäten vom Typ Innen/Außen, Vorher/Nachher zugleich die Frage nach Vermittlern, diskursiven Doppelagenten und Grenzposten stellt. Nicht zufällig wurde die Diskursanalyse in den letzten Jahren durch den Begriff des trickster discourse angereichert (Vizenor u.a.), um solchen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.

Mag der Trickster eine subversive Figur sein, so bringt doch auch das Bedürfnis, gesellschaftliche Gegebenheiten politisch-juridisch zu legitimieren, erzählerische Grenzgängerschaften hervor. Rousseaus ›Contrat social‹ etwa ist ein Meisterstück der narrativen Bewältigung des streng logisch nicht zu bewältigenden Problems, dass der Gesetzgeber, der den Übergang der Menschheit vom Natur- zum Gesellschaftszustand bewerkstelligen soll, seiner eigenen Zeit voraus sein muss, um dieses Amt zu erfüllen. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag hat ohnehin eine ganze Serie von ausgeschlossenen/eingeschlossenen Dritten avant la lettre hervorgebracht. In ihrer unmittelbaren Nachbarschaft gilt Ähnliches für die regulativen Fiktionen der Politik. Wie der Gesetzgeber ist der Souverän eine Figur des Dritten, insofern er zugleich innerhalb und außerhalb der politischen Ordnung agiert – dem Trickster nicht unähnlich, obwohl er doch eine vollkommen konträre Rolle zu spielen hat. Eine politische Lektüre der europäischen Herrscherdramen des 17. und 18. Jahrhunderts könnte zeigen, dass die Literatur auf diesem Feld Paradoxien ausschreibt, die das zeitgenössische Rechts- und Staatsdenken um seines Funktionierens willen kaschiert. Die Dichtung zeitigt hier gerade kraft ihrer scheinbar funktionsentlasteten Fiktionalität einen Genauigkeitsgewinn, der durch keine andere Textsorte zu erzielen ist. Das lässt erwarten, dass eine literaturwissenschaftlich armierte Textanalyse auch die sich vervielfältigenden Fiktionalisierungseffekte heutiger sozialer Regelungssysteme aufzuspüren vermag.

Allerdings ist mit dem Nachweis verdeckt literarischer Textstrategien in nichtliterarischen Diskursen jeweils nur die Hälfte des Weges abgeschritten. Für die eigentlich literaturwissenschaftliche Arbeit werden die ermittelten Befunde vor allem dadurch belangvoll, dass sie sich wiederum auf die Lektüre poetischer Texte zurückbeziehen lassen. Da die Poesie ihre Versuchsanordnungen vorzugsweise über Situationen epistemologischer Offenheit oder gar Unentscheidbarkeit errichtet, kann der Blick auf fiktionale Strukturen durch die Erfahrungen mit jener gewissermaßen unfreiwilligen Literarizität innerhalb von Funktionsdiskursen geschärft werden. Man wird genauer als bisher auf die Probleme performativer Selbstvalidierung, zirkulärer Beglaubigungsformen, auf Einschlüsse/Ausschlüsse und andere ›Infektionsherde‹ des Dritten in der Dichtung selbst aufmerksam sein. Zwischen inner- und außerliterarischen Narrativen findet also ein Austausch in beiden Richtungen statt. Wenn Michel Serres seine Theorie des Parasiten, die auch eine Wirtschafts- und Geldtheorie ist, aus einer (eigenwilligen) Interpretation der Fabeln Lafontaines entwickelt, dann eignet sich umgekehrt der Begriff des Parasiten dazu, der Symbolökonomie von Dichtungen neue Aspekte abzugewinnen. Weitergehend noch haben Kategorien der Dekonstruktion, die im Rahmen einer philosophischen Kritik an metaphysischen Binarismen entwickelt wurden, auf das tiefere Verständnis poetischer Zeichenprozesse zurückgewirkt. Schwelle, Liminalität, rite de passage, Hybridisierung, Mittler, Trickster schließlich sind umlaufende Stichworte, die im Dreieck zwischen Ethnologie, Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften und literarischer Erzähltechnik vielfache Resonanzen erzeugen. Hier kann eine teilweise out of area operierende Literaturwissenschaft ihr ureigenes analytisches Instrumentarium in verfremdetem Licht wiederfinden. Zur Dichtung ›heimkehrend‹, wird sie ihren angestammten Gegenstandsbereich neu reflektieren, wie der folgende Durchgang durch die Forschungsfelder des geplanten Kollegs skizzenhaft verdeutlichen soll.

2.3 Forschungsfelder

2.3.1 Zulassung und Betreuung von Dissertationsprojekten

Dissertationsthemen müssen so zugeschnitten sein, dass sie in der zur Verfügung stehenden knappen Zeit erfolgreich zu bearbeiten sind. Dies stellt hohe Anforderungen an die Betreuung der StipendiatInnen. Angesichts des theoretischen Anspruchs, der sich mit dem Graduiertenkollegsthema verbindet und der auch mit Blick auf die wachsende Bedeutung der Dissertation als entscheidender Laufbahnschrift nicht reduziert werden soll, werden die beteiligten Hochschullehrer notwendige Orientierungsleistungen kontinuierlich von sich aus zu erbringen haben. Die für die Graduierten vorgesehenen Lehrveranstaltungen und Kolloquien müssen einen die Einzelprojekte absichernden und kontextualisierenden Rahmen bieten. Das setzt Teamwork auf der Ebene der ProfessorInnen voraus; die gemeinschaftliche Vorbereitung des Kollegs und die engen Gesprächskontakte mit den kooperierenden Wissenschaftlern an anderen Hochschulen im In- und Ausland haben hier äußerst ermutigende Resultate gezeitigt. Innerhalb des sichernden Rahmens indessen, der theoretische wie persönliche Betreuung umschließt, sollen die Graduierten als junge Wissenschaftler ihre individuelle Forschung mit größtmöglicher Eigeninitiative durchführen.

Während das unter 2.1 und 2.2 behandelte Forschungsprogramm das Thema ›Die Figur des Dritten‹ in seinem vollen theoretischen Umfang darstellen sollte, ist die Auswahl der konkreten Arbeitsgebiete für künftige Graduierte dadurch eingeschränkt, dass für die Betreuung der Arbeiten hinreichende fachliche Kompetenz unter den Konstanzer HochschullehrerInnen oder unter den ProfessorInnen, die als Kooperationspartner am Graduiertenkolleg mitwirken, gewährleistet sein muss. Dadurch kommt es naturgemäß zu fachlichen Schwerpunktbildungen, die mit dem Grundriss des Forschungsprogramms nicht immer deckungsgleich sind. Unter dem Stichwort ›Forschungsfelder‹ werden diese Arbeitsschwerpunkte nach systematischen Kriterien gesammelt. Promovierende aus anderen Fachgebieten können zugelassen werden, wenn zusätzlich die fachliche Betreuung ihrer Arbeit durch einen Hochschullehrer ihrer Herkunftsdisziplin (und in der Regel Herkunftsuniversität) sichergestellt ist. Auf diese Weise lässt sich das Spektrum der Arbeitsschwerpunkte erweitern, ohne dass die erforderliche Effizienz und Konzentration Schaden nehmen.

Will man der Übersicht halber versuchen, die möglichen Beiträge zum Kollegthema in wenige schlagwortartige Rubriken zu unterteilen, so bietet sich eine von Inka Mülder-Bach vorgeschlagene Typologie an. Demnach kann man unterscheiden zwischen Figurationen des Dritten, die 1) Mischformen und Monstrositäten bezeichnen; 2) einen Raum des ›Zwischen‹ markieren, der von Boten, Vermittlern, Grenzgängern durchstreift wird; 3) als Parasit, als eingeschlossenes Ausgeschlossenes, als ein das Verhältnis konstituierender und dabei doch zumeist unsichtbarer Mechanismus erscheinen, der weniger figürlichen als formalen, stets auch defigurierenden Charakter hat.

Unabhängig von solchen Zuordnungen müssen sich alle vorgeschlagenen Projekte an zwei Kriterien messen lassen: zum einen an der jeweiligen fachlichen Qualität und Innovativität; zum anderen an dem Beitrag, den sie als Einzelforschungen zum skizzierten Forschungsprogramm auch in seiner transdisziplinären Ausrichtung leisten können.

2.3.2 Philosophisch-theologische Figuren des Dritten im Mittelalter

Eines der großen Themen der mittelalterlichen Theologie ist die Trinität. Für das Thema ›Die Figur des Dritten‹ sind dabei vor allem die Probleme der Relationität von Belang: Um was für ein Relationengefüge handelt es sich bei der Dreieinigkeit? Wie kann und muss man über sie sprechen, will man (ketzerischen) Missverständnissen zuvorkommen? Bei diesen Bemühungen spielen die seit Augustinus gebräuchlichen Analogieschlüsse zum menschlichen Geist und zur philosophischen Vermögenslehre (memoria, intelligentia, voluntas/ amor) eine für die Konzeption von Mensch und Weltwahrnehmung im christlichen Kontext entscheidende Rolle (Anselm von Canterbury, Abaelard, Schule von Chartres). Und in der Nachfolge Augustinus’ bildet sich eine trinitarische Geschichtstheologie heraus (Joachim von Fiore u.a.), die großen Einfluss noch auf die neuzeitliche Geistesgeschichte ausübt (Drei-Zeiten-Lehre).

Die »vestigia trinitatis«, Spuren der Trinität, die in den Erscheinungsformen der Kreatur gesucht werden, führen zu einem Dreidenken und zur Triangulierung der wahrgenommenen Welt, die ein Signum der mittelalterlichen Weltdeutung bildet – bis hin zur frühen ›Psychologie‹ der mystischen Introspektion. Trinitätstheologische Spekulationen wirken in zahlreichen frühneuzeitlichen Trias-Modellen weiter, wobei sich die leitende Perspektive immer mehr von der Einheit auf die Vielfalt verschiebt. Für die Figur des Dritten sind die in Liebesspekulation kulminierenden Trinitätsreflexionen des 12. Jahrhunderts bedeutungsvoll, die auch um die Relation der drei ›Personen‹ kreisen (u.a. bei Richard von St. Viktor). Wo binäre Codierungen nicht ausreichen und die Logik des ausgeschlossenen Dritten unmöglich geworden ist, stellt sich die Frage nach der Sprache, die derartige Undenkbarkeiten ausdrücken kann. Die jüngere Forschung hat ihr Augenmerk verstärkt auf die Rhetorik der Mystik und der weltlichen, überkomplexen Dichtung der sogenannten ›Blüemer‹ (Frauenlob u.a.) gerichtet.

Das neue Forschungsinteresse an dieser Literatur hängt erkennbar mit der aktuellen Theoriebildung und dem dadurch für Zwischenwelten, Uneindeutigkeiten und Paradoxien geschärften Blick zusammen. Moderne Epistéme und mittelalterliche Wahrnehmungsfelder zwischen Theologie, Mystik und Poesie schieben sich da übereinander. Auffällig ist, dass die Schwierigkeit, nicht auf Eindeutigkeit angelegte Texte des Mittelalters (wozu der größte Teil der fiktionalen Literatur gehört) in ihrer Ambiguität und semantischen Übercodierung gelten zu lassen, erst in der jüngsten Forschung zum Thema gemacht wird – vor allem bei ›Tristan‹- und ›Parzival‹-Interpretationen, aber auch in der neuen Fokussierung auf die verwirrenden, sich semiotisch auflösenden Werke des 13. und 14. Jahrhunderts.

Selbst wenn für das Mittelalter der heilsgeschichtliche Rahmen weitgehend gültig bleibt, zeigt sich doch, dass die Texte die Problematik, diesen Deutungsrahmen auf die Welt anzuwenden, zum Thema machen. Sie lassen Aporien und Unverständlichkeiten eines kontingenten Geschehens sichtbar werden und zeigen, wie sich das Verständnis aus dem Paradox entwickelt, als Sinnsuche im Widerspruch. Immer wieder wird man in literarischen Texten an die innerweltliche Notwendigkeit der Entscheidung zwischen Gut und Böse herangeführt und in die Unmöglichkeit der Entscheidung entlassen. Wenn also diese Texte beständig Figuren des Dritten herstellen, so institutionalisieren sie einen Subdiskurs zur Heilsgeschichte, an dessen aporetischer Struktur die binären (religiösen, sozialen, politischen) Deutungsmuster und (Er)lösungen fragwürdig werden.

Auch die christliche Theologie schwankt zwischen binären und ternären Modellen. Die Dyaden und Antithesen, die das christliche Glaubensuniversum konstituieren (Himmel/Hölle, Körper/Seele, Diesseits/Jenseits) sind nur in ihrer Unterscheidung gegeben, eine Unterscheidung, die stets einen Denkraum für Zwischenbilder erzeugt. So kommt es zu weiteren Ausdifferenzierungen. In die Topographie des Jenseits wird eine Zwischenwelt zwischen Himmel und Hölle, individuellem Tod und letztem Gericht eingeschoben: das Purgatorium. In der frühscholastischen Bußtheologie wird die Lehre vom Fegefeuer dahingehend systematisiert, dass das Diesseits zum Zwischenzustand zwischen Erwartung des Todes und Totengedenken wird, der seinerseits ganz auf den anderen Zwischenzustand des Purgatoriums hingeordnet ist. Der Moment der Entscheidung (zwischen Gut und Böse, Himmel und Hölle) verwandelt sich zum Moment der Buße, die den Platz des noch nicht Entschiedenen, mithin des Dritten, einnimmt. Vordringlich wird hier das Problem der Zeitlichkeit, das auch ein Grundproblem der trinitarischen Reflexion ist.

Mögliche Dissertationen

Reden vom Unsagbaren. Das trinitarische Paradoxon in den Hymnen des Marius Victorinus – Zwischen Erde und Himmel. Asketische Praktiken, Individuen, Gruppen – Zwischen Hölle und Himmel. Das Fegefeuer in der Tradition der lateinischen Kirche – Engel und Dämonen – Trinitätsspekulation und Liebeskonstellation: Relationenspiele in der Literatur des 12./13. Jahrhunderts – Das Paradox als dritter Weg: die Sprache religiöser Erkenntnis in mystischen Texten und weltlicher Liebeslyrik des 13. Jahrhunderts – Angelologie/Dämonologie bei John Milton und William Blake – Kontingenz als Gerechtigkeit. Das Motiv des Gottesgerichts vom Mittelalter bis Kleist

Mögliche Postdoktorandenprojekte

Zur Eschatologie der Entscheidung im Artusroman – Das strukturierende Dritte: Sprachreflexion im nordeuropäischen Stoffumfeld der Nibelungensage

2.3.3 Die Figur des Dritten in Theorien des Sozialen und des Begehrens

René Girards Modell der aus Rivalität geborenen Leidenschaft lässt sich schon für die erzählende Literatur der Antike fruchtbar machen. Bereits in der lateinischen Dichtung prägen Liebesbeziehungen, die sich im widersprüchlichen Bezug auf einen störenden Dritten konstituieren, die Liebesreflexion in der Literatur. Nicht nur die Liebe, auch die Ehe verdankt ihr Dasein einer Dreierkonstellation. Spätestens in den frühneuzeitlichen Ehelehren findet sich ein klares Bewusstsein darüber, dass soziale Zweiheit von ihrer Stiftung und Legalisierung durch eine dritte, institutionelle Instanz abhängig ist. Wie sich jedoch schon in den mittelalterlichen Brautwerbungsgeschichten zeigt, ist auch diese Triangulierung labil und birgt hohe Risiken.

Nicht nur der Rivale ist Nutznießer der Leidenschaft anderer und insofern in einer parasitären Position, sondern auch der Intrigant. Auch Intrigen haben eine triadische Struktur (Utz 1997) und nutzen die soziale Produktivität dreistelliger Beziehungen aus. Wie im Fall des Rivalen mischen sich beim Intriganten Identifikations- mit Fremdheitspotentialen; beide sind sowohl antagonistische wie mimetische Wesen, und gerade diese Zwiegestalt dürfte ihnen die Faszination der Dramatiker und Erzähler aller Epochen gesichert haben.

Zu den Meistern erotischer und familialer Triangulierung in der neueren Literatur ist zweifellos Goethe zu zählen. Seine Romane, vom ›Werther‹ bis zu den ›Wanderjahren‹, knüpfen dichte Gewebe aus dreiecksförmigen Maschen, und auch für seine Lyrik ist die Anrufung Dritter charakteristisch. Nicht zufällig hat Goethe ein mögliches Motto des geplanten Graduiertenkollegs formuliert: »Nichts ist bedeutender in jedem Zustande als die Dazwischenkunft eines Dritten«, lässt er Charlotte in den ›Wahlverwandtschaften‹ sagen. Der Romancier Goethe kann sich dabei auf das Erbe des bürgerlichen Trauerspiels stützen, für das es geradezu gattungskonstitutiv ist, das Begehren sich entlang von Dreiecken aus Übertragung und Rivalität fortpflanzen zu lassen.

Girards Begriff des mediated desire ist indessen nicht allein auf erotische Übertragungsbeziehungen anwendbar. Sie enthält den Nukleus einer Institutionenlehre und begegnet sich hier mit der seit Georg Simmel anhängigen soziologischen Reflexion des Dritten. Für Simmel ist das Hinzutreten eines Dritten zur Zweierbeziehung insofern »eine formal soziologische Bereicherung« (Simmel 1908, 93), als es den Ausgangspunkt einer Objektivation des Sozialen bildet, die über die »Beziehung von Person zu Person« hinausreicht (Simmel 1908, 56). Bezugnahmen auf den Dritten haben deshalb einen die Interaktionsdynamik ›abkühlenden‹ Charakter; sie führen ein Moment von irreduzibler Fremdheit in das Spiegelverhältnis von Ego und Alter ein, aus dessen Substanz soziale Institutionen geschaffen werden können.

Das Konzept des »autoritären Dritten«, das Rudolf zur Lippe in Fortschreibung der Zivilisationstheorie von Norbert Elias ausgearbeitet hat (zur Lippe 1974), kommt Simmels Vorstellung nahe. Zur Lippe bezieht sich selbst zwar auf die szenischen Künste des Quattrocento, er beschreibt damit aber eine historisch frühe Systematisierung der Exkorporation von Herrschafts- und Weltordnungsprinzipien auf ein a-personales Drittes hin, die sich in neueste Entwicklungen sowohl der Medien- als auch der Institutionentheorie fortführen läßt (Kirchmann 1998).

Durch die Tatsache, dass der Bezug auf Dritte institutionsbildende Wirkung zeigt, lässt sich umgekehrt auch erklären, warum in bestimmten kulturellen Situationen Polarisierungen forciert werden. So im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in der avantgardistische Unmittelbarkeitspostulate, politische Dezisionismen und Freund-Feind-Schemata von einem tiefen Misstrauen in alle Formen von Vermittlung genährt wurden. Die Krise der Repräsentation (sowohl auf politischer Ebene als auch auf der Ebene der Sprache), die für diese Periode vielfach diagnostiziert wurde, lässt sich als modern-antimoderne Weigerung, den Dritten zu denken, rekonstruieren.

Mögliche Dissertationen

Die Intrige als Motiv der römischen Geschichtsschreibung – Die störenden Dritten. Kuppler, Türsteher und Mahner in der römischen Elegie – Rivalität und Begehren: zerstörerische Triaden in der mittelalterlichen Heldenepik – Der Bote und das Paar. Minneromane des 13. Jahrhunderts – Brautwerbungsgeschichten. Das alter ego als Mittler und Bedrohung – Ehebruchsgeschichten – Mediation und Triangulierung in der Mystik des 16./17. Jahrhunderts (Spanien, Frankreich, Deutschland) – Diener im französischen und spanischen Drama des 17. Jahrhunderts – Celestinas. Kupler(innen)gestalten in der spanischen Literatur – Der Voyeur im Spannungsfeld von heterosexuellem Begehren und male bonding – Die Ehre als soziales Drittes: das Duell in der Literatur – Das Gewissen als innere dritte Person. Zur literarischen Genese von Überich-Strukturen – Goethes Schwestern (mit besonderem Bezug auf die ›Wilhelm-Meister‹-Romane) – Heilige Familien (Kleist, Balzac, Hawthorne) – Der ungerührte Dritte: Romane der Bürokratie – »Zwischen zwei Menschen gibt es keine Liebe!« Inzestutopie und Triangulierung in Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹ – Ödipus in der vaterlosen Gesellschaft. Literarische Sozialisationsmodelle jenseits der Familie

Mögliche Postdoktorandenprojekte

Romeo and Juliet. Das Motiv der Liebe als Transgression – Autor, Natur, Text: Die Figur des Dritten in der Genieästhetik – Die »dritte Person des Witzes« (Freud). Eine Kommunikationstheorie literarischer Witzigkeit – Ausschluss des Dritten: Eschatologie und Gewalt in den europäischen Avantgarden

2.3.4 Der Dritte als narratologische Größe; Metaphorologie, Poetologie

Ambiguität und Ambivalenz gelten gemeinhin als Kennzeichen der Moderne. Kein anderer Stoffkomplex des Mittelalters macht diese Evidenzbehauptung jedoch fraglicher als der wohl auch deshalb in der Moderne noch präsenteste von Tristan und Isolde. Nicht nur Gottfrieds von Straßburg Version, in der nein unde jâ immerzu beide dâ sind, hat als ›proteisch‹ zu gelten. Der in zahlreichen Volkssprachen bearbeitete Stoff selbst hält dem Mittelalter die Erfahrung bereit, dass die dichotomischen und binären Modi der Erfassung des Menschen und seiner Welt (z.B. Legitimität/Illegitimität, Öffentlichkeit/Heimlichkeit, Natur/Kultur, Schein/Sein) höchst insuffiziente, jedenfalls relative, von Standpunkten und Versprachlichungen abhängige Konstruktionen sind, die über das interferierende Dritte allenthalben hinwegtäuschen. Die Verdopplung der Welt durch Zeichen suspendiert ihre Eindeutigkeit und macht den zwî-vel zum Signum des Helden, der Sündenfall kann auch Heil bedeuten, die Wahrheit taugt auch zur Lüge.

Mittelalterliche Erzählwelten werden von verschiedensten Figurationen des Sowohl-als-Auch bevölkert, in denen Gegensätzliches als sich nicht Ausschließendes, vielmehr als koexistent verkörperlicht wird: die Fee als die im Diesseits wirkende Andersweltliche, ›Frau Welt‹ als die vorn Schöne, hinten Verwesende, der Wiedergänger als lebend Toter und toter Lebender, der in der Welt nicht in der Welt lebende Eremit, der schuldlos Schuldige (Gregorius), der elsternfarbige heidnische Christ (Feirefiz), die unhöfisch Höfische (Cundrie), der weise Narr usw. – Zu fragen wäre nach Konstruktionsweisen, Sinnfunktionen, Deutungsleistungen derartiger Verkörperungen des Dritten. Insbesondere die Analyse der literarischen Mittel, stofflich-motivlich vorgeprägte ›eindeutige‹ Erzählelemente uneindeutig zuzurichten (Doppelung/Spiegelung, Inversion, Chiasmus) steckt erst in den Anfängen (Dicke 1998).

Es ist also die fiktionale Literatur des Mittelalters, die den Dritten als dynamische, gefährliche, unvermeidliche Größe ins Spiel bringt. Die Fiktionalitätsdebatte der letzten Jahre in der Mediävistik hat den Fokus auf die Bedeutung des Erzählers gelenkt, der sich als Beobachter sowohl des Geschehens wie der Verhaltensweisen der Protagonisten und des im Text imaginierten Publikums inszeniert und über das Erzählen selbst Kommentare abgibt. Die Poetik solcher selbstreflexiven Narrationen irritiert und sabotiert das kulturelle und literarische Regelwerk, an das sich die Texte formal zu halten scheinen. Insofern finden sich hier bereits Ansätze zu einer literarischen Epistemologie des Dritten – eingesenkt in narrative Techniken, die erst im Licht der gegenwärtigen Theoriebildung die gebührende Aufmerksamkeit erfahren.

Grenzgänger, liminale Existenzen, Figuren an der Schwelle zwischen Vernunft und Wahnsinn bevölkern auch die neuzeitliche Literatur. Bestimmte Epochen, etwa die Romantik, greifen bevorzugt auf dieses Personal zurück und wählen dafür Erzählgattungen, die ihrerseits durch Genremischung gekennzeichnet sind (Kunstmärchen, Phantastik). Durch vergleichende Analyse mittelalterlicher mit neueren Grenz- und Schwellenphantasien wäre zu überprüfen, inwieweit sich die semiotische ›Ausstattung‹ der Figur des Dritten im literarhistorischen Prozess ändert.

Die Rolle des Erzählers als Beobachter und Zeuge lenkt den Blick auf die gegenwärtige Literaturproduktion, die sich – nach 1945 – mit dem Problem der Zeugenschaft, der Bedingungen autobiographischer Beglaubigung, der Unterscheidung von Fiktionalität und Referentialität von Literatur beschäftigt. Auch in der Lyrik schafft die Spaltung der Ich-Funktion zwischen erlebtem Ich und Ich-Rolle Spielraum für eine weitere, intermediäre Position. Das ›lyrische Ich‹ wäre in Anlehnung an neuere Untersuchungen zur Lyrik (Lamping, Burdorf) als imaginäres Drittes des lyrischen Sprechens zu konzeptualisieren.

Mögliche Dissertationen

Gattungssynkretismus als poetisches Verfahren in der Spätantike – Ciceronianus – Christianus. Der dritte Weg des Hieronymus – Wiederholung als Auflösung der Binarität: Die Namensdoppelungen im ›Tristan‹ – Alter ego und Alterität: König und Narr in Shakespeares Dramen – Pandering im elisabethanischen Drama – Palimpsest und Allegorie in der Literatur a lo divino des spanischen Siglo de Oro – Vor Gericht. Der Ursprung der Rhetorik aus der Triade der Gerichtsverhandlung – Die Erzählgründe des Rechts: Rousseaus literarische Konstruktion des Gesellschaftsvertrags – Mittler- und Tricksterfiguren in der romantischen Märchennovelle – Das Vorwort als liminaler Raum in der französischen Literatur – Kulturelle Grenzgänger und Phantastik: Zur Genealogie des »real maravilloso« – Poetik der Übersetzung und mise en abîme bei Jorge Luis Borges – L. P. Hartleys The Go-Between und der Initiationsroman – Zeugenschaft und autobiographischer Pakt nach 1945 – Sprechendes Schweigen: Die Figur des Dritten in der Lyrik von Nelly Sachs – Die Auflösung der Opfer-Täter-Dichotomie in den Autobiographien der zweiten Generation nach Auschwitz – Das autoritäre Dritte: Zensur und Selbstzensur in der Franco-Zeit – Spione, Überläufer, Verräter, Konspirateure. Agentenfilme als Genre des Dritten

Mögliche Postdoktorandenprojekte

Rhetorische Figuren des Dritten: Metapher, Paradox, Oxymoron, Iteration – Das Dritte begehren: Zur Metaphorologie der europäischen Liebeslyrik – Kein Ort, nirgends: Topographien weiblicher Existenz in Romantik und Neoromantik

2.3.5 Thirdness, third space

Mischwesen in der Bedeutung von ungewohnt und unnatürlich zusammengesetzten Kreaturen bevölkern die alteuropäische Vorstellungswelt genauso wie Mischwesen im Sinne von Dämonen und Engeln, die in Zwischenwelten des religiösen Kosmos wohnen. Noch in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit aber haben sie ihren festen Ort und ihre feste Zeit, kommen aus dem Feenreich oder vom Rande der Weltkarten, aus dem wunderbaren Orient oder aus den himmlischen Gefilden. Sie erscheinen nachts oder am Tag (oft am Mittag), in der Kammer oder im Wald, nicht aber in der Dämmerung oder auf der Schwelle. Dadurch unterscheiden sie sich grundsätzlich von ihren späteren Verwandten. Interessant wäre die Frage, wann Dämmerung und Schwelle in der Literatur und damit im kulturellen Imaginären als Aufenthaltszone solcher Zwitterwesen zum Thema werden.

Politisch brisant wird thirdness in der Konfrontation unterschiedlicher Kulturen. Als Begriff der Postkolonialismus-Debatte können thirdness und third space historisch auf die Aneignung fremder Kulturen im Prozess der Kolonialisation zurückgewendet werden. Diese Aneignung hätte nicht stattfinden können, ohne dass in vielfacher und vielschichtiger Form vermittelnde Instanzen der Repräsentation und Zwischenräume zwischen kulturellen Identitäten entstanden wären: Figuren des Dritten, die allesamt einen prekären Status aufwiesen. In der ersten Phase der Kolonialisierung Hispanoamerikas findet sich eine solche Figur in den lenguas. Die Chronisten gebrauchen dieses spanische Wort, das sowohl ›Zunge‹ als auch ›Sprache‹ bedeutet, um die zumeist kriegsgefangenen Indios zu bezeichnen, die den Spaniern auf ihren Expeditionen als Dolmetscher und Kundschafter dienten. Naturgemäß ist die Rolle der lenguas umstritten, wie der Fall der Malinche illustriert, einer indigenen Frau aus adligem Geschlecht, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle in der Geschichte der Eroberung Lateinamerikas spielte. Während die einen sie zur paradigmatischen Figur des Kulturaustausches (mestijaze) erheben, wird sie von anderen aus indigenistischer Perspektive als Verräterin stigmatisiert. Eine ambivalente Faszination begleitet sie und stattet sie mit allen topischen Merkmalen einer Hermes-Figur aus.

Diesem frühen Typus der lengua werden im kolonialen Hispanoamerika die interethnischen (Geschlechter-)Beziehungen eine weitere Figur des Dritten nachfolgen lassen: die des Mestizen. Wie kaum eine andere Gestalt ist der Mestize dazu geeignet, den dritten und höchst konfliktiven Raum auszuloten, der dann entsteht, wenn sich zwei disparate Figuren begegnen und eine Beziehung von Dominanz und Unterwerfung eingehen. Doch auch auf christlicher Seite zeitigt die Begegnung mit der fremden Kultur trotz aller missionarischen Energie der Tilgung des Anderen synkretistische Effekte und Phantasmagorien eines dritten Raumes, die mit dem Anderen auch das Eigene durch Hybridisierung bedrohen.

Im postkolonialen Theoriezusammenhang kann Hybridität als das Resultat eines Prozesses verstanden werden, in dessen Verlauf die Vertreter der Kolonialmächte zunächst versuchen, das Andere des kolonialen Subjektes in ihren eigenen Diskurs zu ›übersetzen‹. Die Spuren dieses Anderen sind jedoch aus dem kolonialen Diskurs nicht zu tilgen. Es erweist sich im Gegenteil als widerständig und entfaltet ein subversives Potential, die »disruptive Kraft des ausgeschlossenen eingeschlossenen Dritten« (Elisabeth Bronfen). Hybridisierungsprozesse sind dadurch gekennzeichnet, dass sie in einer »positiven Vision radikaler Pluralität« (Wolfgang Welsch) asymmetrisch konstruierte Bipolaritäten, etwa zwischen dem Eigenen und dem Fremden, zwischen Zentrum und Peripherie, enthierarchisieren und destabilisieren. Zu ihrer Beschreibung verwenden Autoren wie Stuart Hall oder Homi K. Bhabha daher folgerichtig das Bild des ›dritten Raumes. Daraus erwachsen weitere Fragestellungen: nach der Figur des Mittlers im Kulturkontakt (des Dolmetschers, des Migranten), nach den Bedingungen dieses Kulturkontaktes und nach der Beschaffenheit der Kontaktzonen.

Für die Figur des Dritten bietet das weite Feld der amerikanischen und auch der kanadischen (post)kolonialen Literaturen eine Fülle von kulturtheoretischen und textanalytischen Anhaltspunkten. Dass diese Figur gerade in der kanadischen Kultur spezifische Bedeutung erhält, liegt historisch darin begründet, dass Anglo-Kanada stets versucht hat, eine nationale Identität zwischen den dominanten Polen Großbritannien und USA zu konstruieren. Während die USA ihre nationale Identität durch eine Ablösung von und einen deutlichen Gegenentwurf zu England definiert haben, siedelt sich die kanadische Selbstkonzeption bewusst in Zwischenräumen an. Innerhalb der kanadischen Kultur ergänzen die métis (Abkömmlinge franko-kanadischer und indianischer Provenienz) und viele weitere ethnische Mischformen das Bild der multikulturellen Einwandererkultur Nordamerikas. Im Werk Margaret Atwoods werden nationale und personale Identitätsproblematik in ihrer Wechselwirkung reflektiert.

Der Blick auf das Fremde kann sich verfremdend auf die eigene Kultur zurückwenden. Die Thematik des ›unsichtbaren Dritten‹ ist von großer Aktualität, weil das westliche Denken in seinen Grundfesten und seinem mainstream dem Satz des Aristoteles vom ausgeschlossenen Dritten verpflichtet war. Das Problem des tertium (non) datur ist jedoch nicht nur logischer, sondern auch politischer Art, weil auf der Basis eines jeweils ausgeschlossenen Dritten homogene Identitäten, Feindbilder und maligne Polaritäten konstruiert wurden. Die Reflexion auf das unsichtbar gemachte Dritte, das Zur-Erscheinung-Bringen von verlorenen und vergessenen Möglichkeiten ist deshalb nicht weniger als eine Arbeit an der destruktiven Gewalt westlicher binärer Mythen.

Mögliche Dissertationen

Selbst- und Fremdverständnis der antiken Römer zwischen Griechen und Barbaren – Die Sprache der Philosophen. Griechische Vorgaben und römische Lösungen – Die Entdeckung der Dämmerung – Die Kolonialisierung des Himmels: Religiöse Literatur und Akkulturation in der frühen Kolonialzeit Iberoamerikas – Das eigene Andere. Utopische Gesellschaften in der Frühen Neuzeit – ›Interkulturalität‹ im französischen und deutschen Drama des 17. Jahrhunderts: christliche Könige, orientalische Despoten – Kontaktzonen in den englischen Reiseberichten der Kolonialzeit – Grenz-Räume in den Romanen Jules Vernes – Zwischen Wachen und Schlaf: Magnetismus in der Romantik – Zwischen den Zeiten. Die ›Stunde Null‹ und die Politik des Vergessens – Peaux noires, masques blancs. Figuren des Dritten in der antikolonialen Literatur – Die Akkulturationsdebatte im französischsprachigen afrikanischen Roman – Genozid, Trauma und Mixophobie bei Guaman Poma de Ayala – Strange Invaders. Bakteriologie, Immunologie und Science Fiction

Mögliche Postdoktorandenprojekte

Vom Tiermenschen zum Cyborg. Eine Kulturgeschichte der Anthropologie des Hybriden – Das Motiv der Konversion – Paradoxien der Robinsonade (Defoe u.a.) – Wirkliches Spiel: Das Metadrama in Moderne und Postmoderne – Exterritorialität in Politik, Recht, Literatur

2.3.6 Das dritte Geschlecht

Spätestens seit Judith Butlers Studie Gender Trouble (1990) ist die Reflexion der sozialen als treibender Komponente männlicher bzw. weiblicher Geschlechtsrollenidentifikation integraler Bestandteil der Auseinandersetzung mit der traditionell bipolar gedachten Konstellation der Geschlechter geworden. Damit griff eine Destabilisierung dieser Konstellation als einer normativen Konstruktion Raum, die, anknüpfend unter anderem an die religiöse Utopie der Aufhebung des Geschlechts in den häretischen Bewegungen des Frühchristentums und der Idee einer nur graduellen Verschiedenheit der Geschlechter, wie sie im mittelalterlichen Heiligenkult sichtbar wird (Walker Bynum), in der feministischen und vor allem in der postfeministischen Theoriebildung die Dekonstruktion des ›natürlichen‹ Geschlechts als eines kulturellen Ordnungsphantasmas einleitete. Im Zuge dieser Theoriebildung wurden und werden Entwurf und performative Realisation eines dritten Geschlechts im Sinne eines die Binarisierung der Geschlechter aktiv unterlaufenden Handlungsvermögens denkbar, das die normative Kausalitätsbeziehung zwischen organisch-biologischem und sozialem Geschlecht abweist und solcherart, etwa durch operatives oder transvestisch inszeniertes gender crossing oder durch die positive Ideologisierung von queerness, die Forderung nach einer selbstbestimmten ›Geschlechtung‹ (gendering) durchsetzt oder aber das Dispositiv der geschlechtlichen Identität überhaupt zu überwinden versucht.

Lange vor dieser theoretischen Systematisierung allerdings kehren die Motive des vestimentären Geschlechtertauschs und der – realen oder inszenierten – Androgynie in der Literatur mit einer Regelmäßigkeit wieder, die das Problem der Geschlechterdifferenz als ein in der abendländischen Epistéme durchweg virulentes und die Literatur als seinen zentralen Austragsort ausweist. Sowohl die weltliche als auch die geistliche Literatur des Mittelalters kennen die Verkehrung des Geschlechts als Mittel der Täuschung oder der Rettung, im Zeichen der Heiligkeit oder im Dienst der Wahrheitssuche und ließen sich im Licht aktueller Theoriebildung daraufhin befragen, inwieweit sich diese Körperspiele und ‑inszenierungen auch als Flucht aus der Geschlechterordnung verstehen lassen. In der Literatur der Neuzeit lassen sich insbesondere zwei Phasen bestimmen, in denen dieses Problem inflationär verhandelt wird, einmal nämlich zu Beginn der Moderne zwischen 1750 und 1820 und zum zweiten in der Literatur des Fin de siècle. Im Spannungsfeld zwischen Mythisierung, Erotisierung und Pathologisierung zeigen sich die Motive der als Mann verkleideten Frau und des Androgyns dabei durchweg als Trägermedien einer dem binären Ordnungsmodell der Geschlechter offenbar immer schon immanenten Irritationserfahrung, die in Donna Haraways Modell des Menschen als einer im Zeitalter der neuen Medien a priori als cyborg zu denkenden, Natur und Kultur längst schon unauflöslich in sich vereinigenden Größe ihre bisher radikalste Standortbestimmung erfuhr.

Mögliche Dissertationen

Hermaphroditen und Eunuchen in der lateinischen Literatur – Die Frau als Mann. Durchbrechung der weiblichen Rolle in der römischen Literatur – Frauen als Mönche und Mönche als Frauen in mittelalterlichen Legenden – Selbst-Hybridisierungen: Goethes Schöpfungsmythen – Vom Kugelwesen zum Hermaphroditen: Ideal und Feindbild des dritten Geschlechts in der romantischen Platon-Rezeption – Text-Körper: Der Androgyn als poetologische Reflexionsfigur im Roman um 1800 – Das Geschlecht der Liebe: queerness in August von Platens Ghaselen – Kastratenfiguren in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts – Cross-Dressing in der viktorianischen Literatur – Die Figur der Schauspielerin im Viktorianismus – Der künstliche Gesell: Der Schauspieler als cyborg in Botho Strauß’ Theaterästhetik – Poetik des Androgynen in der spanischen Lyrik der Gegenwart – Transgression und Transsexualität im britischen Gegenwartsroman

Mögliche Postdoktorandenprojekte

Das Geschlecht des politischen Körpers: Männerkollektive als Frauenallegorien – Gegen-Geschlecht: Der Asket in der Literatur – Anything goes? Geschlechterkonstruktionen in der Internetliteratur

2.3.7 Die Figur des Dritten in der Slavia

In stärkerem Maß als im übrigen Europa wird die slavische Kultur von Verhandlungen um die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit eines dritten Orts innerhalb polarer Ordnungen bestimmt. Das rechtfertigt es, diesen Komplex als ein eigenes Forschungsfeld zu konstituieren. Aus der Grenzperspektive Russlands und anderer slavischer Staaten lassen sich die kulturellen Codierungen Europas trennschärfer beschreiben.

Der/die/das Dritte in den Selbstbeschreibungsmodellen der Slavia

In den religiösen, politischen, ideologischen, geopolitischen und historischen Selbstentwürfen der Slavia spielt die Position des Dritten, von der aus Vermittlungsfunktionen zwischen Ost und West, zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Ursprünglichkeit und Modernität imaginiert werden, eine entscheidende Rolle. Dies gilt auf je unterschiedliche Weise sowohl für Russland als auch für die anderen ost-, west- oder südslavischen Kulturen.

Von Anfang an (d.h. seit der Gründung der Kiever Rus’) hat die russische Kultur Selbstbeschreibungsmodelle entwickelt, die das Land als ein kulturelles und geopolitisches »In-Between« in bezug auf ihre Stellung zunächst zwischen Norden (Waräger) und Süden (Konstantinopel), später zwischen Westen (Europa) und Osten (Asien) konzeptualisieren.

In der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts wird die Idee von Moskau als dem ewigen Dritten Rom formuliert, das berufen sei, die übrige Welt zu erretten. Die ›ewige‹ russische Kultur grenzt sich von den vergänglichen Kulturen Roms und Konstantinopels ab und entwirft sich als ›privilegiertes‹ (und weniger als mediatisierendes) Drittes, als ein dritter, besonderer Raum zwischen Europa und Asien, der eine leitende Funktion in der Weltkultur zu erfüllen habe.

Eine neue Deutung erfährt diese vermeintlich privilegierte Zwischenposition Russlands in der Epoche Peter I., der mit seinen Reformen einerseits die Orientierung an Europa und damit zugleich die Notwendigkeit einer Abgrenzung vom asiatischen Teil des Landes verstärkt. Andererseits bedeutet die Konstruktion des »neuen« Russlands abermals den Entwurf eines dritten Raums zwischen Europa und der eigenen Vergangenheit, der nun von Petersburg, der neuen, »exzentrischen« (Lotman) Hauptstadt symbolisiert wird.

Die Konstruktion der russischen Identität vollzieht sich seitdem im Spannungsfeld zwischen der angestrebten Zugehörigkeit Russlands zu Europa und seiner Andersartigkeit, zwischen defizitärer und privilegierter Kulturlage. Die Polemik zwischen Westlern und Slavophilen, die für die russische Kultur des 19. Jahrhunderts prägend ist, wird von dieser geokulturellen und -politischen Idee dominiert. Die Spannbreite der ideologischen Positionen reicht dabei von der Annullierung der privilegierten Rolle Russlands als Raum zwischen den europäischen und asiatischen Kulturen bei P. Ja. Caadaev (Russland als »leerer Ort«) bis hin zum Anknüpfen an die russische Orthodoxie bei einigen Slavophilen, die Russland als messianischer Hort des Glaubens entwerfen.

Auf eigentümliche Weise transformiert und semantisch umbesetzt bestimmen triadische Figurationen die kulturelle Selbstvergewisserung Russlands im 20. Jahrhundert. Dies gilt für die Bewegung der sog. »Eurasier«, der auch der bekannte Sprachwissenschaftler N. S. Trubeckoj angehört, und die die Idee einer pax rossica progagiert, in der Russland eine heilsbringende Rolle als »symphonische« Synthese zwischen der zu erlösenden ›romanogermanischen‹ Kultur und der ›turanischen‹ (d.h. ugro-türkisch-mongolischen) Welt spielt. Dies gilt auch und vor allem für die politische Ideo- und Theologie der Sowjetkultur, deren Substrat gleichfalls einen deutlichen Rückbezug auf die triadische Heilsgeographie der russischen Orthodoxie und auf das damit verbundene innerweltlich-mystische Erlösungskonzept aufweist.

Im Zusammenhang der politischen Entwicklungen und Neuordnungen der letzten 15 Jahre haben sich die Selbstbeschreibungskonzepte in Russland und in anderen slavischen Kulturen erheblich transformiert. Dies lässt sich in allen slavischen Nationalkulturen beobachten, die jetzt mit verschiedenen triadischen Modellen sowohl ihre Position in der Slavia als auch in den nichtslavischen bzw. westeuropäischen oder asiatischen bzw. islamischen Kulturbereichen und -kontexten neu zu beschreiben versuchen. In dieser Hinsicht besonders markant erscheinen »In-Between«-Figurationen in den kulturellen Identitätsdiskursen im Kulturraum des ehemaligen Jugoslawien, bei denen das utopischen Diktum des sozialistischen Tito-Jugoslawiens vom »dritten Weg« von der Erfahrung eingeholt wird, in eine katastrophisch-sinnentleerte dritte Zwischenwelt geraten zu sein, in der sich jeder Versuch der Selbstversicherung als Bestätigung von Verlusterfahrung erweist (Žižek 1999, Karahasan 1999).

Dyaden und Triaden in der Geschichte der russisch-sowjetischen Literaturtheorie und Kultursemiotik

Die theoriegeschichtliche Schubkraft des russischen Formalismus lag in seiner ersten Phase zunächst wesentlich an seiner strikten formal-binaristischen Verfasstheit (Automatisierung/Desautomatisierung, Verfahren/Material etc.). In seiner späteren Phase hingegen lässt sich eine deutliche Öffnung hin zu triadischen Modellen erkennen, so z.B. bei Boris Ejchenbaum, bei dem als drittes Element in die dualistischen Konzepte die Referenz auf die Kontextbedingungen von Literatur und Kunst (vgl. den Begriff vom »literarischen Leben«/»literaturnyj byt«) eingeführt wird. Eine ähnliche Entwicklung findet sich auch in der frühen sowjetischen Filmtheorie (vgl. Sergej Ejzenštejns sog. »intellektuelle Montage« oder Dziga Vertovs Intervall-Theorie).

Im Unterschied zum Formalismus wird das Verhältnis zwischen dyadischen und triadischen Modellen in der russisch-sowjetischen Kultursemiotik nicht nur explizit reflektiert, sondern avanciert hier zu einer strategischen Dauerproblematik. Diesbezüglich besonders prominent sind die Arbeiten von Lotman/Uspenskij zum Entwicklungsmechanismus der russischen Kultur (Lotman/Uspenskij 1977). Dieser historische Mechanismus wird von Lotman/Uspenskij dualistisch gedacht, wobei die Geschichte Russlands als eine Folge von radikalen Umwertungen der axiologischen Hierarchien von alt/neu, gut/böse, Westen/ Osten verstanden wird. Lotman/Uspenskij gehen davon aus, dass die russische Kultur keine dritte, neutrale Sphäre der kulturellen Werthierarchien kennt (was seinen Ausdruck u.a. auch in dem Fehlen der Idee vom Fegefeuer in der orthodoxen christlichen Lehre findet). Während die westliche »ternäre« Kultur eine historische Bewegung durch eine Veränderung in der Hierarchie der Werte ins Werk setzt, produziert die russische binäre Kultur ihre Geschichte durch performative Akte der Negation bzw. der Zerstörung vorgängiger Werte. Bezeichnenderweise meint Lotman in seinen späten Arbeiten in der postsowjetischen Kultur den Übergang von einer binären zu einer im gesamteuropäischen Sinne »ternären« Kultur beobachten zu können.

Insgesamt lässt sich in Lotmans kultursemiotisch-strukturalistischen Arbeiten ein recht eigentümlicher und durchaus zu den westeuropäischen strukturalistischen Theorietraditionen differenter Umgang mit dem Verhältnis von dyadischen und triadischen Argumentationsformen feststellen (Murašov 1996).

In einem spannungsreichen, ja ungelöst-konflikthaften Verhältnis stehen sich dyadische und triadische Modellierung in der Literatur- und Kulturtheorie Michail Bachtins gegenüber, die einerseits mit nicht stillzustellenden Binarismen Monologizität/Dialogizität, eigenes/fremdes Wort etc. operiert, andererseits aber alle ihre disparaten Argumentationsbewegungen in einer utopisch-heilsgeschichtlichen Perspektive zu befrieden sucht. Wohl mit dieser notorischen Unruhe und Nichtauflösbarkeit dyadischer Spannungen in stabilen triadischen Modellen hängt es zusammen, dass Bachtin zu einem der Referenztheoretiker für die postkolonialen Hybriditätskonzepte (vgl. bes. Homi Bhabha) werden konnte.

Die Figur des Dritten in der slawischen Literatur und Kunst

Ganz offensichtlich stellt die fiktionale Literatur jenen Ort dar, an dem seit jeher die/der/ das Dritte ihr Unwesen treiben und an dem Störung und Restitution von Ordnungen durch gebetene oder ungebetene Dritte ausfabuliert und (psychisch/mental) bewältigt werden. Erzählprozeduren, dramatische Entwicklungen und lyrische Bewegungen werden gleichermaßen durch Spannungen zwischen dyadischen und triadischen Strukturen in Gang gebracht. (Diese Spannung entsteht in dem Augenblick, in dem Texte entpragmatisiert werden bzw. ästhetisch selbstreferentiell funktionieren.) Dies lässt sich sowohl auf der Ebene von Text und Sprache, der Figurenkonstellation als auch der narratologischen Strukturen beobachten.

Von größter Virulenz erweisen sich die Figuren des Dritten (meist missratene Söhne) in Dostoevskijs Romanen – einer Virulenz, die bis auf die Ebene der Textkonstitution selbst durchschlägt. Die von Bachtin beschriebene Polyphonie von Dostoevskijs Texten hängt damit unmittelbar zusammen. Höchst interessant ist es in diesem Kontext zu sehen, wie die Spannung zwischen dyadischen und triadischen Modellen, die Dostoevskijs Texte beherrscht, differente Lektürestrategien generiert: Deutungen, bei denen ödipale Dreieckskonstellationen herauspräpariert werden (Freud, Girard), stehen den russischen(-sowjetischen) Interpretationen gegenüber, bei denen diese triangulären Strukturen auf Doppelgängerkonstellationen bzw. auf metamorphotische Verwandlungen eines Zentralhelden zurückbezogen werden (vgl. bes. Lotman).

Zu besonderer Prominenz avanciert die Figur des Dritten in der sowjetischen Literatur des sozialistischen Realismus. Hier wimmelt es auf der einen Seite von Schädlingen, politischen Diversanten, Spionen und Verrätern, die mit metaphysischer Bösartigkeit Intrigen spinnen und das sowjetsozialistische Erlösungsprojekt gefährden. Auf der anderen Seite aber werden diese finsteren Figuren des Dritten gedoppelt in (meist väterlichen) Rettergestalten des Dritten, denen es weniger durch aktives Handeln als vielmehr durch ihre mentalen und spirituellen Kräfte immer wieder gelingt, biographisch-sittliche und/oder historisch-gesellschaftliche Katastrophen zu verhindern.

Mögliche Dissertationen

Tertium datur! Das nicht ausgeschlossene Dritte in der russischen Philosophie des 20. Jahrhunderts (Pavel Florenskij, Merab Mamardašvili u.a.) – Vom System zum Prozess. Binäre und ternäre Kodierungen im sowjetischen Strukturalismus der Moskau-Tartu-Schule – Euroasiatische Visionen in der russischen symbolistischen Lyrik (V. Solov’ev, Andrej Belyj, Aleksandr Blok) – Die Volk-Regierung-Intelligencija-Triade und die »Bauformen« des russischen Romans im 19. Jahrhundert – Spieler, Pfandleiher, Schreiber. Vermittlerfiguren im russischen Realismus – Fremde Schrift und eigene Sprache. Die mediale Konstitution des Erzählers und das Problem der Englisch-Russischen-Zweisprachigkeit des Autors Vladimir Nabokov – »In-Between«. Eth(n)ische, politische und historische Identitätsentwürfe in den Literaturen des ehemaligen Jugoslawiens – Dyadische und triadische Bild- und Zeichenkonzepte in der frühen sowjetischen Filmtheorie (Sergej Ejzenštejn, Dziga Vertov, Vsevolod Pudovkin) – Michail Bachtin und die postkoloniale Hybriditätstheorie (Homi Bhabha) – Ödipale Dreiecke und infinite Spaltungen. Vergleich von westlichen (Freud, Girard) und russisch-sowjetischen (Bachtin, Lotman) Dostoevskij-Lektüren – Schädlinge, Spione und Verräter im Roman des sozialistischen Realismus.

Mögliche Postdoktorandenprojekte

Die Monster von Peter dem Großen: Die ›Kunstkamera‹ als Paradigma des petrinischen Europäisierungsprojektes

2.3.8 Epistemologie des Dritten im 20. Jahrhundert

Unter diesem Stichwort ist vor allem Theoriegeschichte in literaturwissenschaftlicher Absicht zu treiben. Zu fragen ist, wie und wann dialektische Entwicklungsmodelle, die, etwa in der deutschen Romantik, noch der heilstheologischen Drei-Zeiten-Lehre verpflichtet sind, durch differentielle Konzepte im neuen Sinn abgelöst werden und wie sich dies in der semiologischen Organisation literarischer Texte niederschlägt.

Was den Bereich der Zeichentheorie und Logik betrifft, so wäre – in Abgrenzung von der auf Saussure zurückgehenden Tradition des (Post)Strukturalismus – stärker als bisher an die dreistellige Zeichentheorie von Peirce anzuknüpfen. Peirce hat in ›A Guess at the Riddle‹ ja selbst den Versuch unternommen, die wissensorganisatorischen Konsequenzen seiner Theorie auf den unterschiedlichsten Feldern durchzuspielen (Peirce 1965). Im Unterschied zu anderen Logikern schließt Peirce aus der Unbestimmtheit der Quantorenlogik die Ungültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten und gründet dies auf eine Rezeptionsästhetik des Zeichens, das sich als von der Zustimmung eines Dritten abhängig erweist. Das Konzept des Interpretanten bietet methodologische Anschlussmöglichkeiten auch für die Literaturwissenschaft.

Mit Blick auf die unterschiedlichen Paradigmen der Differenz, die in den vergangenen Jahrzehnten das epistemologische Feld geprägt haben, ist die Hypothese einer spezifischen Modernität der Figur des Dritten zu überprüfen. In diesem Zusammenhang besitzt die Systemtheorie Luhmanns fraglos den Status eines zentralen Players, der sich in die unter dem Titel des Graduiertenkollegs aufgerufenen epistemologischen Figurationen in dem Maß verstrickt sieht, wie der leitende Binarismus seiner Theorieanlage immer schon von codeförmig nicht regulierbaren Situationen getroffen ist. Die Systemtheorie hat es in einem doppelten Sinn mit der Figur des Dritten zu tun. Als moderne Theorie erklärt sie ihre Zuständigkeit für alle Formen mehrwertiger, komplexer oder ›unreiner‹ Epistemologie (Paradoxie, Tautologie). Als Theorie der Moderne versteht sie sich als Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung – was bedeutet, dass es nicht mehr um ein ontologisches Bezeichnen von Weltsachverhalten in der Tradition der abendländischen Metaphysik geht (etwa: Vorordnung des Seins vor dem Schein, der Transzendenz vor der Immanenz etc.), sondern um die Reflexion jenes modernekonstitutiven blinden Flecks, der dort entsteht, wo eine beobachtungsleitende Differenz, die die Welt nach Maßgabe ihrer Unterscheidung konstruiert, vor dem Problem ihrer eigenen Unbeobachtbarkeit steht. Diesen blinden Fleck reartikuliert eine Beobachtung zweiter Ordnung, die den blinden Fleck ihrer eigenen Beobachtungsoperation freilich ihrerseits nicht zu ›sehen‹ vermag, wie eine Beobachtung dritter Ordnung feststellen kann (Iteration). Wenn Gesellschaft sich »immer neu als Versuch [konstituiert], die Perspektive des Dritten einzunehmen, aus der Differenzen überbrückt werden können und die Einheit des Sozialen von außen sichtbar gemacht wird« (Giesen 1991, 244), dann ist dieser Versuch im Zeichen einer (post)modernen ›Entdinglichung des Sozialen‹ einer stets drohenden Delegitimation ausgesetzt.

Während die Systemtheorie auf der einen Seite begriffliche Instrumente bereitstellt, um den Dritten als Beobachter zu beobachten, lässt sich ihr eigenes ›Paradoxiemanagement‹ und ihre Handhabung von systemischen Grenzen andererseits einer kulturologischen Analyse unterziehen. Denn auch Luhmann bedient sich systemtheoriefremder erzählerischer Verfahren, um auf beiden Seiten der für ihn konstitutiven System/Umwelt-Unterscheidung zugleich operieren zu können (Koschorke 1999). Wegen ihres hohen Formalisierungsgrades ist die Systemtheorie sogar besonders gut geeignet, die Unvermeidlichkeit von Hybridisierungen und ›unsauberen‹ epistemologischen Operationen im Vollzug einer auf das Funktionieren von Systemen bedachten Theorie zu erweisen.

Mindestens ebenso relevant für die literaturwissenschaftliche Theoriebildung ist das zweite große Differenzparadigma des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die Dekonstruktion. Man wird das begriffliche Instrumentarium des Poststrukturalismus, angefangen von Kristevas Konzept der Artikulation bis hin zu Derridas différance, nicht unreflektiert unter dem Stichwort ›Figur des Dritten‹ subsumieren dürfen. Es handelt sich hier um eine Mechanik der Aufschiebung, Aufspaltung, Verrückung, die nicht als Figur ›dingfest‹ wird, sondern den Ermöglichungsgrund einer ständigen Bewegung der Figuration und Defiguration bildet. Wenn dennoch etwas die Verwendung des Figur-Begriffs auch auf diesem semiologischen Niveau rechtfertigen kann, so ist es die Anknüpfung an das figurale Prinzip der Rhetorik, das besonders in den Arbeiten de Mans eine Schlüsselrolle spielt.

Die Dekonstruktion und die ihr verwandten Denkrichtungen haben in den letzten Jahren das Konzept der différance zunehmend markanter zu einer politischen Theorie ausgebaut. Figurationen des Dritten werden in dieser Wendung weniger durch die Unterwanderung klassisch metaphysischer Binarismen als durch die Diskussion eines systemischen Modells von Politik freigesetzt. Autoren wie Derrida, Ernesto Laclau, aber auch Claude Lefort stellen der ›Politik‹ (la politique), die als ein ausdifferenziertes Subsystem der Gesellschaft auf der Basis binärer Codes – bei Luhmann: ›Regierung und Opposition‹ oder ›Regierung und Regierte‹ – operiert, ›das Politische‹ (le politique) gegenüber, das außerhalb der binären Unterscheidungen der ›Politik‹ situiert ist und als Größe gefasst wird, welche diese Unterscheidungen allererst instituiert. Das Denken des ›Politischen‹ lenkt den Blick auf den Akt des Unterscheidens selbst, und zwar nicht nur desjenigen Unterscheidens, dessen Produkt die binären Codierungen von ›Politik‹ sind. In der jüngsten Diskussion hat sich deshalb die politische Theorie als ein wichtiger Ort erwiesen, an dem die spannungsreiche Beziehung von Dekonstruktion und Systemtheorie – und mit ihr die ebenso spannungsreiche Beziehung von dekonstruktivistischen und systemtheoretischen ›Figuren des Dritten‹ – reflektiert wird (Stäheli 2000).

Auch wenn man die Moderne als Normkrise versteht, steht sie vor dem Dauerproblem der Unterscheidung. Für moderne Gesellschaften lässt sich eine semantische Umbesetzung des Normbegriffs beobachten, wie der Literaturwissenschaftler Jürgen Link herausgearbeitet hat (Link 1997). In der sozialen Welt Alteuropas war der Normenkatalog sozialer Einheiten Widerschein einer als stabil vorausgesetzten ontologischen Ordnung. Das normative Regelwerk der Gesellschaft konnte präskriptiv sein und mit einer binären, qualitativ-exkludierenden Unterscheidungstechnik operieren, die auf dem einfachen Gegensatz zwischen Erfüllung und Übertretung von Normen aufbaute. Moderne Gesellschaften müssen hingegen ohne ein solches ontologisches Fundament auskommen. An die Stelle der Norm tritt das Normale, das seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem über Verfahren der Statistik eruiert wird (Ewald 1993). Unterscheidungen qualitativ-exkludierenden Typs werden ersetzt durch eine quantitativ-inkludierende Technik der Differenzierung, die zwei Merkmale hat. Erstens stellt sie immer nur nachträglich fest, was normal ist, verfährt also deskriptiv statt präskriptiv. Zweitens trennt sie das Normale vom Abnormen und Pathologischen nicht – wie im Fall der binären Alternative von Erfüllung und Übertretung – durch eine klar zu markierende Grenze, sondern durch eine breite und flexible Grauzone der Mischung und Übergänglichkeit zwischen beiden, eine Zone, an der entlang Normalität ihr Toleranzpotential gegenüber Abweichungen testen muss, um lernfähig zu bleiben.

Es ist evident, dass die moderne Literatur, die von großen Gesten der Übertretung geprägt ist, durch solche Umstellungen des sozialen Normierungsmodus beeinflusst wird. Dies gilt um so mehr, als sie immer auch Umkehrungen der Unterscheidung normal/ abnorm prozessiert, angefangen von der romantischen Abwertung des Philisters bis hin zu den programmatischen Verstößen gegen Norm und Konvention, die ihrerseits als ›krank‹ depotenziert werden, in der Literatur der Avantgarden.

Mögliche Dissertationen

Systeme als Narrationen von Fichte bis Luhmann – Jenseits von gut und böse: Nietzsche und die französische Literatur der Schwarzen Romantik – Dezisionismus. F. T. Marinetti, Ernst Jünger, Carl Schmitt – Verbrechen der Ordnung, Ordnung des Verbrechens. Kriminelle Helden in der Literatur der zwanziger Jahre – Wahnsinn und Statistik. Der klinische und der literarische Diskurs über Pathologie.

Mögliche Postdoktorandenprojekte

Figuren des Weder-Noch. Genealogie der modernen Skepsis – Der boromäische Knoten. Lacans drei Register als Literaturtheorie – Das Reale ist das Abjekte. Über die Schwierigkeiten der Theorien des 20. Jh.s, der Wirklichkeit einen Ort einzuräumen – Zonen des nackten Lebens. Die literarische Topographie der Moderne im Licht von Agambens ›Homo sacer‹

2.3.9 Figurationen des Dritten in der Kunst und in den Medien

Es liegt auf der Hand, dass Medien einen prominenten Platz in der Figurenlehre des Dritten einnehmen. Teilen sie doch ihren Charakter der Mittlerschaft, der Produktion ebenso wie Subversion von Beziehungen zwischen zwei Kommunikanten, schließlich ihre Stellung als Doppelagenten im Zeichenspiel von Sein und Scheinen mit der Phänomenologie dritter Instanzen, wie sie bisher diskutiert wurde. Das betrifft zunächst ganz basal die technische Ebene der Medialität. Die Medientheorie, die seit den Pionierleistungen Marshall MacLuhans zu den produktivsten Feldern der Kulturwissenschaften gehört, verdankt ihre Entstehung der scheinbar simplen Erkenntnis, dass Kommunikationen keine zweistelligen, sondern dreistellige Vorgänge sind, abhängig von medialen Übertragungsprozessen, deren technisches Apriori sie gleichwohl verkennen, um sich als spontane Akte zu inszenieren und misszuverstehen. Vieles von den Forschungen, die auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahrzehnten geleistet wurde, angefangen von der Debatte um Mündlichkeit versus Schriftlichkeit bis hin zur Analyse der elektronischen Medien mit ihrer Tendenz zur Hybridisierung von Mensch und Maschine, lässt sich unter dem Stichwort einer medialen Logik des Dritten reformulieren.

Gewinnbringender und innovativer dürfte die konkrete Analyse von Bildverfahren sein, die eine Kategorie des medialen Dritten ins Spiel bringen. Wenn die Themenstellung des Graduiertenkollegs es erlaubt, grundlegende binäre Konzeptualisierungen, wie sie für die westliche Kultur charakteristisch und bis heute prägend sind, kritisch zu hinterfragen, dann ist auch das Gegensatzpaar von Text und Bild in Zweifel zu ziehen. Über den Text-Bild-Gegensatz ist ja ein Großteil der ästhetischen Semiotik gelaufen (Lessings ›Laokoon‹), was dritten Formen wie etwa dem Diagramm einen problematischen und marginalen Status aufbürdete und was angesichts neuer, hybrider Formen des Zusammenspiels von bildlicher und sprachlicher Information im Zeichen der neuen Medien (Stichwort: Hypertext) zusehends anachronistisch wird.

In der bisherigen kunsthistorischen Forschung hat die Figur des Dritten kaum eine Rolle gespielt. Ikonographische Untersuchungen haben vor allem mit Bezug auf die Mittlerfigur des »Engels« ein gewisses Interesse, weil hier die Frage der Darstellbarkeit der Figur im Zwischenbereich zwischen Diesseits und Jenseits die zentrale Rolle spielt. In systematischer Hinsicht wichtiger und auch für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit fruchtbarer werden Fragestellungen zur medialen Verfasstheit der visuellen Kommunikation im engeren Bereich der Kunst, aber auch in dem des Bildes überhaupt sein. Folgende beiden Themenschwerpunkte sind aus der Sicht der Konstanzer Kunstwissenschaft derzeit von primärem Interesse: Das Phänomen des Diagramms bzw. der Diagrammatik, die noch heute aufgrund historischen Fixierung auf die Bild-/Text-Opposition noch keine seiner Bedeutung adäquate Behandlung gefunden hat. Von besonderer Dringlichkeit erscheint dann die Untersuchung von Phänomenen, die in Analogie zum modischen Begriff des hypertext unter dem Begriff »hyperimage« zusammengefasst werden können, nämlich die unterschiedlichen Formen der Zusammenstellung von Bildern und ihrer fotografischen Vertreter in der musealen und archivalischen Praxis sowie in der kunstgeschichtlichen Didaxis. Themen sind etwa die Vergleichsabbildung und die Pendanthängung, bei denen im Zusammenspiel zweier grundsätzlich beweglicher Einzelobjekte jeweils ein Bildsyntagma als neuem Dritten konstituiert wird, dessen Bedeutung nicht als Addition der beiden Konstituenten verstanden werden kann.

Die erwähnten Problemkreise hat eine reformierte, gleichzeitig historisch und systematisch argumentierende Kunstwissenschaft mit der Medienwissenschaft gemeinsam. So ist auch im Bereich der Medien das Verhältnis von Bild zu Bild nicht ohne ein intermediäres Drittes zu denken. Filmische Montagen, die weder dialektisch (Eisenstein) noch einfach binär funktionieren, lassen Figuren entstehen, die nicht zufällig im Stummfilm oder in entsprechenden Formzitaten des Tonfilms als Überblendungen erscheinen, ohne eine eigene ›Bildlichkeit‹ zu beanspruchen. Es sind Zwischenbilder, die – man kann das bei Filmtheoretikern wie Balàzs und Arnheim nachlesen – zur Bildschöpfung benötigt werden und gerade deshalb nicht selbst Bild werden, sondern als das Dritte zwischen den Einstellungen interferieren. Ähnliches gilt zwischen Bild und Rahmen für das ›Parergon‹ der paradoxen Übersetzung zwischen ›Innen und Außen‹ (Derrida 1992), das hinsichtlich des Bewegungsbildes zwischen den Einstellungen und jenseits des Leinwandbildes als oszillierende Figur des Übergangs figuriert. Das lässt die Rückfrage zu, ob sich vergleichbare Funktionen in der gesprochenen Sprache auffinden lassen. Kandinsky spricht über das UND in der synthetischen Kunst (Kandinsky 1927), Godard filmt das UND, das Deleuze für die zentrale figuration dessen hält, was er als Zeitbild im postmodernen Kino beobachtet. Die These liegt nahe, dass unsere elektronische Bildkultur eine Kultur der Zwischenbilder ist, der uneigentlichen beschleunigten Bilder, die nicht mehr nur in die ›rationalen‹ Diskurse intervenieren (Lyotard, Scott Lash), sondern sie sich durch Mediatisierung der Kultur ebenso wie der Politik längst übereignet haben.

Es wimmelt in den Bildmedien von Parasiten beim Gastmahl der Kommunikation, wie Michel Serres die Figur des Dritten beschrieben hat, von unwillkommenen, aber auch unentbehrlichen Agenten des ›Zwischen‹ – ob man sie nun als den Flicker identifiziert, der sich in den Bewegungsbildern nur mühsam unterdrücken lässt, oder als das Rauschen, vor dessen Hintergrund sich erst die Töne artikulieren. – Hier wäre der Ort, um an Michel Serres’ ›Hermes‹-Projekt als einer kybernetischen Beschreibung des kommunikativen Systems im Oszillieren zwischen Ordnung und Unordnung anzuschließen.

Einen anderen Zugang bietet die Analyse von Massenkommunikation als rhetorische Analyse, die nach der Herstellung von Glaubwürdigkeit diesseits der Binarität von Wahr/ Falsch oder Wahrheit/Irrtum fragt. Die heterogenen, zwischen Bildern, Geräuschen und Texten multimedial zerfasernden Formen der Medienkommunikation des 20. Jahrhunderts lassen im Übergang zwischen Sein und Scheinen eigenständige, eigenmächtige Vorstellungskomplexe entstehen, die als soziale Wissensfiktionen Evidenzen je neu schaffen und auch wieder ablösen. Sie zeigen sich als intermediäre Phänomene mit lediglich noch peripherem Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch. Zu untersuchen sind sowohl die rhetorischen Verfahren, in denen sich diese Positionierung als ein Drittes herausbildet, als auch die Orientierungsleistungen, die den Phänomenen des Glaubwürdigen oder der Meinung im komplexen Selektions- und Konstruktionsgefüge der Medien zukommt. Hier sind die tentativ-essayistischen Darstellungsweisen von Interesse, die insbesondere im Zeitungsfeuilleton erprobt werden und sich – auf die ganze Zeitung übergreifend – mit täglichen neuen Montagen aus Texten und Bildern festsetzen.

Mögliche Dissertationen

Grenzen der Gattung. Ovids elegisches Lehrgedicht von der Liebe – Gattungssynkretismus als poetisches Verfahren in der Spätantike – Der überspielte Dritte: Boten und Briefe – Die Entdeckung des Dolmetschers in der Frühen Neuzeit – Praxis der Text-Bild-Relationen im Mittelalter (mehrere Themen möglich) – Theorien der Emblematik jenseits der Text/Bild-Opposition – Die Gattung der Arabeske – Zwischen den Bildern: Bildervergleich in systematischer und historischer Betrachtung (mehrere epochenspezifische Arbeiten möglich) – Gesamtkunstwerkkonzepte der russischen Moderne (Skrjabin, Kandinsky, Curlionis u.a.) – Theorie des Triptychons – Triptychoide Bildgattungen und Präsentationsformen in Moderne und Spätmoderne – Hybride Gattungen in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts: dramatischer Monolog, Versroman, Melodrama – Roots Crossed with Reading: Seamus Heaney als Kulturvermittler und -übersetzer – Essayismus und Feuilletonismus. ›Dritte Schreibweisen‹ zwischen diskursivem und literarischem Schreiben – Figuration und Intermedialität. Beobachtungen intermedialer Transformationen – Theorie der Montage und der Hybridisierung – Zwischenbilder, Kippbilder, Oszillieren des Zwischen – Slash-Ästhetik: Intertextualität und Intermedialiät im Internet – Synästhetische Verfahren in den digitalen Medien –Theorie des Bewegungsbildes (Technische Konstruktion, mediale Differenz, Ästhetik, Wahrnehmung) – Hybridisierung vorgängiger Format-, Gattungs- und Genregrenzen wie ›Infotainment‹ oder ›Docufiction‹ – Godards Histoire(s) du Cinéma: Filmgeschichte und intermediale Figuration

Zum Oberthema Entropie als Drittheit des 1. und 2. Thermodynamischen Gesetzes: Wissenschaftsgeschichte der Entropie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften – Das ›Hermes‹-Projekt von Michel Serres – Die Katachrese als ›entropische‹ Methode – Negentropie als Figur: Der Maxwell’sche Dämon als Gatekeeper der Kommunikation – Entropie, Chaos und Katastrophen in der postmodernen Ästhetik

Mögliche Postdoktorandenprojekte

Schrift – Bild – Körper: Geschichte und Funktion einer kulturtheoretischen Denkfigur – Diagramm/Diagrammatik: Bedeutungskonstitution jenseits der Opposition von Text und Bild