Transatlantisches Blockseminar, Chicago, 10.-13. April 2007

 

FORM DENKEN.
ASPEKTE EINER FUNDAMENTALEN KATEGORIE IN PHILOSOPHIE, ÄSTHETIK UND LITERATUR

 

Das Seminar findet unter den Leitung von Prof. Rüdiger Campe (Johns Hopkins University), Prof. Albrecht Koschorke (Universität Konstanz) und Prof. David Wellbery (University of Chicago) mit Studierenden aus den drei beteiligten Universitäten statt. Es knüpft an zwei Veranstaltungen in den Jahren 2005 und 2006 an, die auf ähnliche Weise dem Nachdenken über literaturtheoretische Grundlagenprobleme gewidmet waren.


Während sich die moderne Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts als eine ‚Entfesselung der Form’ beschreiben lässt, ist es um den Formbegriff in der Postmoderne erstaunlich ruhig geworden. Neue Impulse kommen aus dem Bereich konstruktivistischer Epistemologien und der damit verbundenen Komplexitätstheorien. Das Seminar soll Traditionen des Formdenkens von der Antike (Platon, Aristoteles) über die klassische Rhetorik bis hin zu Luhmanns Grenzbegriff der Form als Unterscheidung rekonstruieren. Schwerpunkte werden in der ästhetischen Debatte um 1800, in der Philosophie des 19. Jahrhunderts sowie in den Formreflexionen des frühen 20. Jahrhunderts liegen. Dabei wird keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben; im Rahmen eines Blockseminars lassen sich nur ein paar improvisierte Streifzüge in das Reich der Form unternehmen. Neben Auszügen aus philosophischen Werken werden ausgewählte literarische Texte auf formale Funktionen hin (Einfügung in historische Gattungskonventionen, Gestaltgebung, textuelle bzw. semantische Schließung, Organisation von Selbstreferenz u.a.) befragt.

TEXTE:

 

Die Texte zum Seminar stehen für Sie auf den Seiten des "Center for Interdisciplinary Research on German Literature and Culture" zum  download zur Verfügung

 

PROGRAMM

Das Seminar findet an drei Tagen statt und gliedert sich in drei jeweils vierstündige Sektionen:

Dienstag, 10. April 2007, 15-19 Uhr

1. Antike philosophische Traditionen des Formdenkens und ihre Verarbeitung in der deutschen Klassik

a) Antike Grundlagen (Leitung: Albrecht Koschorke)

Plato, Timaios 27a-58c (28 Seiten);
dazu: Jacques Derrida, Chora
Aristoteles, Metaphysik, 7. Buch, Kap. 7-17, und 8. Buch (42 Seiten)

b) Formkonzepte der deutschen Klassik (Leitung: Rüdiger Campe)

In dieser Sektion soll diskutiert werden, wie die Formbegriffe der philosophischen Tradition einerseits und die Formvorstellungen aus Rhetorik und Poetik andererseits in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts verarbeitet werden. Es geht also zunächst darum, ob es eine spezifisch ästhetische Frage nach der Form gibt (wenn man Ästhetik im Sinne der im 18. Jahrhundert entstehenden Theoriediskussion versteht) und zweitens, wie sich eine solche ästhetische Frage nach der Form dann gegebenenfalls vom Formbegriff der philosophischen Tradition unterscheidet. Die Vermutung lautet: dass in der Tat die Weise, in der der eidetische Formbegriff der Tradition zum Gegenstand der ästhetischen Betrachtung gemacht wird, diesen Begriff neu fasst – und in der Folge für andere, 'funktionale', Verwendungsweisen öffnet.

Karl Philipp Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen (27 Seiten)
Johann Wolfgang Goethe, Einleitung in die Propyläen (17 Seiten)
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, §§ 10 -17 (19 Seiten)

[Moritz, Goethe-Lektüren]
Goethe, Sonette (darin I: Mächtiges Überraschen)

Mittwoch, 11. April 2007, 15-19 Uhr

2. Formkonzepte in der Philosophie des 19. Jahrhunderts

a) Rückblick: Form in der Rhetorik (Leitung: Rüdiger Campe)

Aristoteles, Rhetorik, III. Kap. 7 – 12 (darin: Kap. 7: to prepon (das Passende), 10: ta asteia (der urbane Ausdruck), 12: ta gene tes lexeos (die Arten der Darstellung)), (20 Seiten)
Quintilian, Institutio oratoria, XI.1 (aptum), (41 Seiten)


b) Philophie des 19. Jahrhunderts (Leitung: David Wellbery)

Formbegriffe, die in Anschluss an Kants Kritik der Urteilskraft entwickelt worden sind, sollen in diesem Abschnitt des Seminars Gegenstand einer vergleichenden Reflexion sein, die zum Ziel hat, die unterschiedlichen konzeptuellen Rahmen herauszuarbeiten, innerhalb deren Form als das Spezifikum von Kunst verortet wird. Unsere leitende These wird sein, dass sich in den Entwürfen zur Ästhetik, die von Hegel und Schopenhauer vorgelegt werden, zwei Möglichkeiten einer Fortschreibung des kantischen Ansatzes artikulieren: a) eine am Begriff der Handlung orientierten Theorie der Form als Objektivation des Geistes in seiner Selbstbeziehung (Hegel); b) eine am Begriff der Offenbarung orientierte ontologische Theorie, die Form als Exponierung wesenhafter Seinsbezüge begreift (Schopenhauer). Für beide Konzepte ist der Begriff der Idee zentral; dieser Begriff wird jedoch in je unterschiedlicher Weise bestimmt. Vor dem Hintergrund dieser Gegenüberstellung soll das anthropologische Formkonzept, das Nietzsche in der Geburt der Tragödie darlegt, erörtert werden. Hier soll die These erprobt werden, dass Nietzsches Theorie den Gegensatz zwischen der kulturimmanenten (historischen) Auffassung Hegels und der kulturtranszendenten (ahistorischen) Auffassung Schopenhauers aufhebt. Ausblicke auf spätere philosophische Konzepte (Heidegger, Adorno) sollen das Nachleben der beschriebenen Problematik in der Moderne andeuten. Weil die in diesem Abschnitt behandelten Formbegriffe höchst abstrakt formuliert werden, fällt es schwer, sie an einem einigermaßen überschaubaren Textbeispiel zu exemplifizieren. Genau dies soll jedoch abschließend versucht werden, und zwar anhand von Johann Peter Hebels Erzählung Unverhofftes Wiedersehen.

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, §9–16 (S. 131-149).
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik: Erster Teil, Erstes Kapitel: „Begriff des Schönen überhaupt“ (Bd. I, S. 151-157); Erster Teil, Drittes Kapitel: Das Kunstschöne oder das Ideal, A. Das Ideal als solches, 1. Die schöne Individualität (Bd. I, S. 203-212); Dritter Teil, Drittes Kapitel: Die Poesie, A. Das poetische Kunstwerk im Unterschiede des prosaischen, 1. Die poetische und prosaische Auffassung und 2. Das poetische und prosaische Kunstwerk (Bd. III, S. 237-270).
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, §34-35 (S. 256-264); §43 (S. 302-308); §51 (S. 340-356).
[Seitenangaben beziehen sich in allen Fällen auf die Werkausgaben im Suhrkamp Verlag.]
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Kap. 1-4 (KSA I, S.25-42); Kap. 7 (S. 52-57); Kap. 12 (S. 81-88); Kap. 15 (S. 97-102); Kap. 21 (S. 132-140); Kap. 24-25 (S. 149-156).
Johann Peter Hebel, Unverhofftes Wiedersehen (J.P.H., Werke, hg. Eberhard Meckel, Frankfurt/M.: Insel, 1968, Bd. 1: Erzählungen des Rheinländischen Hausfreundes. Vermischte Schriften, S. 271-273).
 

Donnerstag, 12. April 2007, 9-13 Uhr

3. Aspekte des Formdenkens in der Moderne

a) Formkonzepte der Klassischen Moderne (Leitung: Albrecht Koschorke)

In dieser Sektion sind drei Hypothesen zu überprüfen: 1) Um 1900 löst sich das Denken der Form endgültig von der aristotelischen Vorgabe eines hylemorphen Dualismus von Substanz und Form und geht zu monistischen Modellen über. Form entsteht nun als emergentes Phänomen aus ungeformter (physikalischer, sozialer, ästhetischer) Energie. 2) Es kommt zu einer Emanzipation der Form von herkömmlichen Gattungskonventionen und Form-Inhalt-Adäquationen. 3) Form wird performativ und aktivisch verstanden, als ein den Gegenstand aus dem Amorphen oder aus dem Nichts allererst hervorbringender Akt; das weist ihr eine vollkommen neue Rolle bei der Konstitution von Kunstwerken zu.
Einleitend in die Sektion sollen ausgewählte Formkonzepte der Klassischen Moderne (Georg Simmel, Wilhelm Worringer) behandelt werden. Danach soll es um die Form moderner Lyrik gehen – auf der Grundlage einer kleinen Auswahl von Gedichten aus dem Kanon der Moderne, die gern von interessierten Teilnehmern modifiziert und ergänzt werden kann.


theoretische Schriften:
Georg Simmel, Die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und der objektiven Kultur (33 Seiten)
Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur (24 Seiten)
Georg Simmel, Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch (8 Seiten)
Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, Kap. 1 (25 Seiten)

Lyrik:
Conrad Ferdinand Meyer, Der römische Brunnen
Charles Baudelaire, Le gout du néant (aus den Fleurs du Mal)
Stéphane Mallarmé, L’Azur und Un coup de dès
dazu: Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik (Auszüge, im Reader)
Ernst Stadler, Form ist Wollust
Rainer Maria Rilke, Erste Duineser Elegie
Gottfried Benn, Cocain; Ach, das Erhabene; Einsamer nie –; Ein Wort
Ingeborg Bachmann, Römisches Nachtbild


b) Form in der Systemtheorie (Leitung: David Wellbery)

Niklas Luhmann, *Die Kunst der Gesellschaft, Kap. 3: ‚Medium und Form’ (50 Seiten)
- Zeichen als Form. In: Dirk Baecker (Hg.), Probleme der Form, S. 45-69 (24 Seiten)