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Einführung in die Bildsemiotik
- Teil 1
Steffen Bogen, Kunstwissenschaft/Kunstgeschichte, Universität Konstanz
Vorbemerkung: Beim folgenden Text handelt es sich um das nur leicht
überarbeitete Manuskript eines Vortrags, der im Rahmen der Ringvorlesung
"Konzepte der Literatur- und Medientheorie" im Wintersemester
1999/2000 gehalten wurde.
1. Einleitung
1.1. Bildtheorie unter semiotischer Perspektive
Thema der folgenden Vorlesung ist mit der
Semiotik eine nun schon "klassisch" gewordene Methode. Thema
soll aber auch eine aktuelle Fragestellung sein: "Was ist ein Bild?"
Derart kurz und bündig hat die Frage der Kunsthistoriker Gottfried
Böhm in einem 1995 erschienenen Sammelband formuliert. Etwas
ausführlicher könnte man fragen: Warum machen wir Bilder? Was
machen wir mit Bildern?
Dennoch habe ich diese Vorlesung nicht allgemein
"Einführung in die Bildtheorie" überschrieben, sondern
"Einführung in die Bildsemiotik". Damit sind gewisse Einschränkungen,
zumindest Vorannahmen verknüpft.
Die wichtigste: Bilder sind Zeichen.
"Semiotik" kann man am einfachsten
(aber auch leicht mißverständlich) als Lehre von den Zeichen
übersetzen. Etwas genauer ist die Definition: Lehre von Zeichensystemen
oder Zeichenprozessen. Bildsemiotik befaßt sich demnach mit Bildern
unter der Voraussetzung, daß Bilder Zeichen sind.
Zwei zentrale Fragestellungen liegen damit auf der Hand:
1. Was verbindet Bilder mit anderen Zeichen?
2. Was unterscheidet Bilder von anderen Zeichen?
Mit diesen Fragen werden sogleich Dichotomien zwischen Bild und Wort
aufgerufen, die im 19. Jahrhundert zu Chiffren konträrer Denkstile
wurden:
Das Wort, der verbale Text steht in dieser Gegenüberstellung für
das im Lesen Aufzuschließende, für den kontrolliert entwickelten
Sinn, für das Rational-Logische...
Das Bild steht dagegen für das affektiv und emotional Eindringliche,
für die unkontrollierte Sinnlichkeit, für das Irrational-Alogische...
Solche Polarisierungen (die ich hier nur schlagwortartig
aufrufe) sind aufschlußreich, besonders wenn man nach der historischen
Ausprägung des Text-Bildverhältnisses fragt. Dennoch soll mit
dieser Einführung in gewisser Weise ein entgegengesetzter Aspekt
von Bildlichkeit betont werden. Es soll gezeigt werden, daß Bilder
eine bestimmte Art oder ein bestimmter Aspekt von Bildern für
das logische Denken geradezu unabdingbar sind. Der Gewährsmann für
diese These ist der Begründer der modernen Semiotik
Charles Sanders Peirce, dessen Theorie im Zentrum der Vorlesung stehen
soll.
2. Zur Aktualität der Bildtheorie
Bilder prägen unseren Alltag heute ebenso wie verbale Sprachen.
In dem Maß, in dem die Bilder als zentrale Manifestationsform von
Kultur bewußt werden, wächst das Interesse an der Historisierung
des Problems: Welche Rolle haben Bilder in früheren Epochen gespielt,
welche Rolle spielen sie in anderen Kulturen? Auch in der Kunstgeschichte
rangiert die Frage nach den Bildern zunehmend vor der Frage nach der Kunst.
Man spricht vom "iconic turn" und debattiert über die "Visual
Culture" (vgl. auch den vor kurzem an der Universität Konstanz
veranstalteten Workshop).
Das Potential der traditionellen Semiotik wird im Rahmen dieser neuen
Bildwissenschaft häufig kritisch beurteilt.
Das will ich mit einigen kurzen Literaturhinweisen belegen.
James Elkins leitet
ein 1998 in Cambridge erschienenes Buch über "Pictures and
the Words That Fail Them" mit dem Bekenntnis ein, er hätte
eine Art "Antisemiotik" geschrieben. Das Bild und darin steht
er in der angesprochenen Tradition der Text-Bild-Gegenüberstellung
ist für ihn das ambivalente, zwielichtige, das sich einer eindeutigen
rationalen Festlegung widersetzt. Bilder tendieren für ihn generell
zur Unlesbarkeit und Bedeutungslosigkeit, sie verweigern sich einer einfachen
Narration, bleiben opak und schwierig. Genau diese Phänomene so
Elkins - spreche die semiotische Analyse den Bildern ab. Damit verdecke
sie das eigentliche Phänomen der Bildlichkeit.
Eine andere Antisemiotik hat Lambert
Wiesing mit seiner 1997 erschienenen "Sichtbarkeit des Bildes"
geschrieben. Seine Entwicklungsgeschichte der formalen Ästhetik will
nachweisen, daß Bilder im 20. Jahrhundert ihren Zeichencharakter
vollkommen verloren haben. An die Stelle der Referenz sei die reine Sichtbarkeit
der vom Gegenstand abgelösten Form getreten. In dieser Hinsicht konvergieren
für ihn so unterschiedliche Phänomene wie die gegenstandslose
Kunst der Moderne und der Videoclip der 80er und 90er Jahre. Bei letzterem
sehe man nur noch das schnelle Schnittempo nicht mehr das Dargestellte.
Beide Autoren, Elkins und Wiesing, negieren
auf unterschiedliche Weise die Bedeutung des Begriffs "Repräsentation"
für die Analyse von Bildern. Es bleibt allerdings zu fragen, wie
weit sie mit dieser Negation nicht doch innerhalb des semiotischen Paradigmas
bleiben (was wohl zumindest Wiesing nicht bestreiten würde):
Auch der Antichrist ist bekanntlich eine christliche Erfindung und mit
dem Antisemiotiker könnte es sich ähnlich verhalten.
William Mitchell
ein weiterer Kritiker der Semiotik im Bereich der Bildwissenschaft benutzt
den Begriff "Repräsentation" durchaus als Schlüsselbegriff.
Er spricht in der Regel von "Repräsentationen",
verwendet den Begriff also im Plural. Damit markiert er, daß "Repräsentationen"
in aller Regel gemischt auftreten, das heißt aus visuellen und verbalen
Anteilen bestehen.
Mit der Frage nach gemischten Repräsentationen
greift er auf ein semiotisches Vokabular zurück, grenzt sich jedoch
zugleich gegen die traditionelle Zielsetzung der Methode ab. Sein Interesse
besteht nicht darin, eine gemeinsame Grundlage von Text und Bild zu definieren.
Für ihn ist eine solche Frage falsch gestellt: Er glaubt nicht, daß
die Differenz von Bild und Wort theoretisch verallgemeinerbar ist. Das
Verhältnis von Schreiben und Malen nennt er mit Foucault "unendlich".
Die Leitmetapher von Mitchell ist die konkrete
Auseinandersetzung: Die Zusammenführung von Bild und Wort treibt
demnach stets Konflikte hervor. Bei deren Verallgemeinerung ist Mitchell
vorsichtig das unendliche Verhältnis von Schreiben und Malen betrifft
auch sein eigenes Schreiben über die Bilder. Ich polarisiere vielleicht
stärker als er es selbst tut, wenn ich feststelle, daß Bilder
bei ihm tendenziell für eine hierarchische und asymmetrische Kommunikationstehen:
den latent manipulierenden Bildproduzenten stehen die latent manipulierten
Bildkonsumenten gegenüber. Mitchell weitet damit ein Argument der
kulturkritischen Medientheorie auf die Bilder insgesamt aus.
Dem semiotischen Ansatz wirft er vor, die
Dramatik des Bild-Text-Konflikts zu unterschätzen. Der Versuch, eine
allgemeine Theorie der Repräsentation zu schreiben, sei der gesellschaftlichen
Praxis unangemessen und müsse so auch ohne jeden Einfluß
auf diese Praxis bleiben.
Neuere Ansätze in der Bildtheorie bestehen
also darauf, daß in der Gegenüberstellung von Wort und Bild
immer auch ein Rest des Unvergleichbaren bleibt. Selbstverständlich
kann auch innerhalb semiotischer Theorien das Verhältnis von Bild
und Wort als Differenz beschrieben werden. Dennoch muß der Ansatz
einer allgemeinen Zeichentheorie davon ausgehen, daß diese Differenz
verallgemeinerbar und aus einem übergeordneten Zeichen- oder Kommunikationsmodell
heraus zu begründen ist. Gegen diese Grundannahme wenden sich in
unterschiedlicher Form die Bücher von Elkins, Wiesing und Mitchell.
Allerdings muß der Begriff "Bild"
häufig selbst ein weites Spektrum von Phänomenen abdecken. Wir
sprechen von sprachlichen, mentalen oder materiellen Bildern. Als Bilder
können klassische Leinwandgemälde ebenso wie bewegte Bilder
auf der Kinoleinwand oder digitalisierte Pixelbilder auf dem Computer
bezeichnet werden. Ausgehend von diesem Befund, ist es das Anliegen von
Klaus Sachs-Hombach und Klaus Rehkämper, Herausgeber
einer neuen Reihe "Bildwissenschaft" die Fragestellungen zu
bündeln, die verschiedene wissenschaftliche Disziplinen an Bilder
richten. Der erste Band der neuen Reihe, der den Titel "Bildgrammatik"
trägt, versammelt Beiträge aus der Philosophie, Psychologie,
der Kunst- und Medienwissenschaft. Als Vergleichsgrundlage greifen die
Herausgeber auf semiotische Kategorien zurück: So sind nach dem Band
zur Bildsyntax weitere Bände zur Bildsemantik und Bildpragmatik
geplant. Es gibt also auch im Bereich der Bildwissenschaften den Versuch,
an semiotische Traditionen anzuknüpfen.
Mit der folgenden Einführung möchte
ich die Frage, welche Rolle die alte "Semiotik" in der neuen
Bildwissenschaft spielen kann, keineswegs umfassend beantworten oder gar
entscheiden. Es werden auch keine speziellen Semiotiken des Bildes vorgestellt.
Die Versuche, eine solche Theorie zu schreiben, sind zahlreich. Ihre Qualität
ist sehr unterschiedlich. Ein Klassiker der Medienwissenschaft ist etwa
die Filmsemiotik von Christian Metz. Einen Überblick
über verschiedene semiotische Ansätze im Bereich der Kunstgeschichte
gibt der 1994 im Art Bulletin erschienene Artikel von Mieke
Bal und Norman Bryson.
Ziel der Einführung ist es vielmehr,
zwei semiotische Basistheorien direkt vorzustellen und nach ihrer bildtheoretischen
Relevanz zu fragen.
3. Eine Wurzel der modernen Semiotik: strukturalistische Linguistik
Die allgemeine Semiotik kann als Theorie der Bedeutungskonstitution
definiert werden. Sie fragt nach der Bedeutung. Sie fragt allerdings nicht:
Was ist die Bedeutung, was ist der Sinn? Sie fragt: Wie
macht etwas Sinn, das heißt unter welchen Bedingungen entsteht
Bedeutung? Die Semiotik versucht, Formen zu analysieren, die Bedeutung
entstehen lassen, und den sprachlichen Kontext zu rekonstruieren,
in dem sich die Bedeutung konstituiert.
Die moderne Semiotik
hat zwei Wurzeln:Die Wurzeln der europäischen, strukturalistischen
Semiotik liegen im Bereich der Linguistik. Als Begründer dieser Semiotik
die sich zunächst Semiologie nannte gilt Ferdinand
de Saussure (1857-1913). Der Begründer der amerikanischen, pragmatischen
Semiotik ist Charles Sanders Peirce. Ihre Wurzeln liegen im Bereich der
Logik und Philosophie.
Die strukturale Linguistik
hat die Entwicklung der Literaturwissenschaften entscheidend geprägt.
Die pragmatische Semiotik von Peirce hat einen nicht zu unterschätzenden
Einfluß auf die Philosophie des 20. Jahrhunderts gehabt. Es gibt
also nicht nur zwei Wurzeln der Semiotik, sondern auch zwei Bäumchen
der Semiotik. Einige Semiotiker wie etwa Algirdas-Julien
Greimas halten die Theoriekonzepte sogar für unvereinbar. Andere
wie Umberto Eco haben für eine Vermittlung plädiert, ohne daß
daraus eine wirklich vereinheitlichte dritte Theorie entstanden wäre.
Die Semiotik muß mit diesem Schisma in gewisser Weise leben. Ich
will die Ansätze im folgenden auch getrennt vorstellen.
3.1. Strukturalistische Erzähltheorie
Der Abschnitt zur strukturalistischen Semiotik soll relativ kurz gehalten
werden. Nicht weil mir der Ansatz unsympathisch wäre, sondern weil
man in einer kurzen Einführung nicht beides machen kann: Die strukturalistische
Semiotik und die Peircesche Semiotik gleichermaßen ausführlich
vorstellen.
Die strukturale Semiotik geht davon aus,
daß es nicht das einzelne Ding ist, das Sinn macht, sondern daß
sich Bedeutung in materiellen Differenzen manifestiert. Das Nicken mit
dem Kopf, das für "Ja" steht, macht nur Sinn, weil das
Schütteln das Kopfes für "Nein" steht. Die These,
daß die Differenz das entscheidende ist, erfährt eine schöne
Bestätigung durch Kulturen, in denen das horizontale Kopfschütteln
für "Ja" und das vertikale Nicken mit dem Kopf für
"Nein" steht.
Ich will aus dem Bereich des Strukturalismus
Algirdas-Julien Greimas hervorheben, der in literaturwissenschaftlichen
Zusammenfassungen meist nur als Rand- und Gegenfigur zum "Helden"
Roland Barthes erwähnt wird. Während Barthes so die kanonische
Darstellung den Übergang von der strukturalistischen Analyse zum
poststrukturalistischen Schreiben geschafft hat, formalisierte Greimas
halsstarrig seine Erzähltheorie.
Erklärtes Ziel dieser Theorie war es, eine narrative Grammatik zu
schreiben, die "transmedial" funktionieren sollte: Alles wurde
zum Text erklärt seien es mündliche, schriftliche, bildliche
oder musikalische Texte und in allem sollten sich sofern sich überhaupt
so etwas wie Sinn aufzeigen ließ konstante narrative Strukturen
manifestieren.
Während die Literaturwissenschaft dieser
Form von Verallgemeinerung in den 80er Jahren überdrüssig wurde,
wurde sie für die Bilder gerade erst entdeckt. Die in der Kunstgeschichte
vorherrschende Methode der Bedeutungsanalyse die Ikonographie kann
immer nur nach der Ableitung einzelner Bildmuster fragen. Mit Hilfe
der strukturalistischen Erzähltheorie kann die Frage nach der Kombination
von Bildmotiven und Bildfeldern im Rahmen einer Bilderzählung gestellt
werden.
Als Beispiel sei eine Bildseite (Abb. 1)
aus der um 870 entstandenen karolingischen Bibel von San
Paolo fuori le mura (fol. 310 v). Ein ikonographischer Ansatz würde
die Motive aus denen sich die drei Bildregister zusammensetzen, isolieren
und nach Vorlagen in älteren Handschriften fragen. Unanalysiert blieben
damit die Prinzipien, mit denen die Motive ausgewählt, neu kombiniert
und koordiniert wurden.
Die Bildseite erzählt die Geschichte
der Bekehrung des Saulus zum Paulus. Man könnte zunächst davon
ausgehen, daß die Szenen nach einem einfachen chronologischen Prinzip
innerhalb der Spalten von links nach rechts und im ganzen der Bildseite
von oben nach unten aufgereiht worden sind. Ich will die Szenen im folgenden
in dieser Hinsicht kurz identifizieren, ohne eine genaue Bildbeschreibung
zu geben:
1. Bildregister (oben):
links: Saulus erhält vom Hohenpriester den Auftrag zur Christenverfolgung
rechts: Saulus stürzt vor Damaskus, von einer Lichterscheinung geblendet
2. Bildregister (in der Mitte):
links: Saulus wird blind nach Damaskus geführt
Mitte: Saulus wird von Ananias geheilt
rechts: Gott beauftragt im Traum den Ananias, Saulus zu heilen.
Hier entsteht das Problem: Chronologisch ist der Auftrag an Ananias,
Saulus zu heilen vor der Heilung zu denken. Bei einer einfachen
chronologischen Reihung der Szenen müßte die Traumszene also
links von der Heilung stehen so wie es die wenige Jahrzehnte zuvor entstandene
Vivian-Bibel (Abb. 2) zeigt: Im zweiten Bildregister links den Traum des
Ananias, rechts daneben die Heilung des Saulus in Damaskus. Warum stellt
die einige Jahrzehnte später entstandene Bibel von San Paolo, die
auf dieselben Bildmuster zurückgreift, die Szenen um?
Der Buchmaler hat versucht, nicht die chronologische,
sondern die inhaltliche Ordnung der Geschichte anschaulich zu machen.
Die Umstellung der Szenen macht dabei in horizontaler und vertikaler Richtung
Sinn (Abb. 1):
Im horizontalen, mittleren Bildregister kann dadurch gezeigt werden, wie
ein hilfsbedürftiges Subjekt und sein Helfer in der Geschichte zusammengeführt
werden. Es baut sich eine starke Dynamik vom Rand zur Mitte hin auf. Das
glückliche Zusammentreffen von Saulus und Ananias kann ins Zentrum
der ganzen Bildseite gerückt werden.
In vertikaler Hinsicht wird durch die Verlagerung
des Traums an den Rand die Analogie zur Vision des Saulus vor Damaskus
anschaulich gemacht. Die erste und zweite Bildzeile werden nun ganz ähnlich
abgeschlossen. In beiden Fällen erscheint die Hand Gottes in einer
rötlichen Wolke und adressiert eine liegende Gestalt, die als Zeichen
der Aufmerksamkeit und Empfangsbereitschaft die Hand hebt. Gerade in den
verdrehten Empfängern der Vision und des Traums (die von der ikonographischen
Kunstgeschichte belächelt wurden), erkennt man die Anstrengung, die
der Buchmaler unternommen hat, die beiden Szenen aneinander anzugleichen.
Man könnte von einem "visuellen Endreim" sprechen.
Das Beispiel zeigt, wie die Zusammenstellung
von Motiven auf ihre Funktion in der Geschichte abgestimmt sein kann.
Semiotisch gesprochen: Die Syntax der Bilderfolge ist semantisch motiviert.
Solche Prozesse können mit Hilfe der Erzähltheorie von Greimas
sehr gut analysiert werden.
Das Potential dieser Methode für die
Kunstwissenschaft wurde maßgeblich von Felix
Thürlemann erschlossen, dessen Buch "Vom Bild zum Raum"
ich an dieser Stelle nachdrücklich empfehle.
3.2. Das Zeichenmodell von F. de Saussure
Die strukturalistische Semiotik hat jedoch, was die Analyse von Bildern
betrifft, mit einer Art "Geburtsfehler" zu kämpfen. Damit
sind diese drei Schemata gemeint, insbesondere der Baum, der darauf zu
sehen ist: Die Schemata (Abb. 3) sind dem "Cours de linguistique
générale" von Ferdinand de Saussure entnommen, der
Gründungsschrift der europäischen Semiotik.
Mit den Schemata wird das grundlegende Zeichenmodell
von Saussure veranschaulicht: Er definiert das Sprachzeichen als die Verbindung
aus einem Lautbild (Image acoustique) und einer inhaltlichen Vorstellung
(concept). Das Lautbild ist eine mentale Abstraktion vom gesprochenen
Wort. Es kommt dabei nicht auf die sinnliche Qualität der Laute,
sondern auf ihre Differenzen zu anderen Lauten innerhalb des Sprachsystems
an.
Das Lautbild ist die eine Seite des Zeichens,
der Saussure den Namen das Bezeichnende (signifiant)
gibt. Die andere Seite des Zeichen nennt Saussure das Bezeichnete
(signifié). Entscheidend ist, daß damit kein externer
Referent gemeint ist, sondern ein ebenfalls mentales inhaltliches Konzept.
Das Zeichen (signe) ist dann definiert als konventionelle, das
heißt als nicht motivierte, arbiträre Zuordnung von signifiant
und signifié.
Saussure führt als Beispiel das lateinische
Wort "arbor" an, das mit der Vorstellung von "Baum"
verbunden ist. Das französische «arbre» wird im oberen Teil des Diagramms
in doppelte Häkchen gesetzt, um anzuzeigen, daß hier nicht
das Lautbild des Wortes gemeint ist, sondern das damit verbundene inhaltliche
Konzept. Um dies weniger mißverständlich zu machen, wird das
Schema daneben noch einmal mit der stilisierten Figur eines Baums wiederholt
ohne hier noch einmal irgendwelche Häkchen anbringen zu müssen.
Und das ist der semiotische Sündenfall dieses linguistischen Modells.
Im oberen Teil des Diagramms steht das Bild ja nicht für die graphische
Form, die erst noch mit einem Inhalt korreliert werden muß, sondern
für den Inhalt selbst. Mit einem solchen Modell scheint es schwierig,
Bilder ebenso wie geschriebene Worte überhaupt als signifiant
als Bezeichnendes analysieren zu können. Aber genau dies wäre
ja die Aufgabe einer allgemeinen Zeichentheorie. Das Schema veranschaulicht
somit den Vorwurf, der der Semiotik häufig gemacht wird: Daß
sie trotz gegenteiliger Beteuerungen letztlich doch ein linguistisches
Modell geblieben ist.
Genau betrachtet, taucht das Bild allerdings
dreimal in diesem Schema auf. Zunächst spricht Saussure ja vom Lautbild:
Das Französische macht den Anteil "Image" an dieser Kombination
sehr deutlich. Bei der Differenzierung von Lauten spielen demnach in einem
übertragenen Sinn "Bilder" (im Sinne von Typen) eine gewisse
Rolle. Daneben erscheint das Bild - wie gesehen - in Form des gezeichneten
Baums als Verweis auf ein inhaltliches Konzept. Schließlich läßt
sich aber auch das ganze Schema als Schaubild oder als diagrammatisches
Bild bezeichnen, in dem die Struktur des Zeichens veranschaulicht werden
soll.
Bilder sind in diesem Zeichenmodell somit
gradezu omnipräsent: Sie spielen bei der Definition des signifiant
eine Rolle, bei der Veranschaulichung des signifié und bei
der Dastellung der Korrelation von signifiant und signifié.
Was von de Saussure gerade gedanklich getrennt und wider aufeinander bezogen
werden soll, verschwimmt sozusagen in der unterschwelligen Allgegenwart
des Bildes. Über solchen Verwicklungen kann man sehr wohl zum Poststrukturalisten
werden.
4. Die Relevanz von Peirce für die Bildsemiotik
Im Anschluß an das zweistellige Modell von de Saussure wird in
den meisten Semiotik-Einführungen, das dreistellige Modell von Peirce
diskutiert. Ich will im folgenden etwas anders vorgehen und nicht die
Zeichenmodelle formal vergleichen, sondern den eigenständigen Ansatz
von Peirce unabhängig von den bisherigen Überlegungen skizzieren.
Auf die verzweigte und verwirrende Rezeptionsgeschichte möchte ich
dabei ebensowenig eingehen, wie auf die verschiedenen Phasen des nie zum
Abschluß gekommenen Denkens von Peirce.
4.1. Schlußfolgern als Zeichenprozeß
Charles Sanders Peirce (1839-1914) wollte seinen Namen "Pörs"
nicht "Piers" ausgesprochen haben. Von den Zeitgenossen wurde
er weitgehend ignoriert. Heute gilt er ziemlich unbestritten als der bedeutendste
amerikanische Philosoph, als Begründer des Pragmatismus und der neueren
Allgemeinen Semiotik.
Peirce steht in der aristotelischen und
mittelalterlichen Tradition, Zeichen im Rahmen der Logik zu verhandeln.
Seine Grundannahme ist: Zeichenprozeß, Hypothesenbildung und Schlußfolgerung
sind homolog, haben also dieselbe Struktur. Schlußfolgern (Denken)
ist für Peirce nur innerhalb von Zeichenrelationen möglich:
Wir denken in Zeichen, Gedanken sind Zeichen. Gleichzeitig legt
die Schlußfolgerung das Grundprinzip der Zeichenrelation offen.
Ich will diesen Ansatz an einer Geschichte erläutern (sie stammt
aus der Bibel was aber im Moment keine Rolle spielt):
Ein König träumt von einem großen mächtigen Baum.
Der Baum wird gefällt. Der König erwacht und ruft seine Traumdeuter
zu sich. Einer der Weisen sagt:
"Der große mächtige Baum bist Du, oh König. Das Fällen
des Baums bedeutet, daß Du Deine Macht verlieren wirst."
So weit die kurze Geschichte. Fragen wir, welche Rolle Zeichen und insbesondere
bildliche Zeichen nicht nur in der Imagination, sondern auch in der Deutung
des Traums spielen.
Die Deutung hat den Charakter einer offenen
Hypothesenbildung. Solche Prozesse interessieren Peirce in ihrer inneren
Logik. Als Semiotiker fragt Peirce nicht, ob Prämissen oder die Konklusion
an sich wahr oder falsch sind. Es ist in diesem Sinn völlig uninteressant,
ob der König tatsächlich diesen Traum geträumt hat und
ob die Prophezeiung des Traumdeuters "tatsächlich" in Erfüllung
gegangen ist. Von Interesse ist allein, in welcher Beziehung Traum und
Deutung stehen warum die Deutung überhaupt als eine Auslegung des
Traumberichts erscheinen kann.
Die Deutung setzt an, indem der geträumte
Baum auf den König bezogen wird. Dies ist ein spekulativer Schritt.
Er scheint auch durch ein bildliches Verständnis des Baums
motiviert zu sein. Die Tatsache, daß der Baum groß ist, erleichtert
seine Assoziation mit dem großen, mächtigen König. Wir
stoßen hier auf ein erstes Moment der Bildlichkeit im Verlauf der
Hypothesenbildung.
Die eigentliche Schlußfolgerung kann nun von zwei Aussagen ausgehen:
(1) Ein großer Baum wird gefällt (Paraphrase des Traums)
(2) Der große Baum steht für den König (Ansatz der
Deutung)
Aus diesen beiden Aussagen zieht der Deuter die Konklusion (die bezogen
auf die Prämissen "irgendwie" schlüssig erscheint):
(3) Der König wird seine Macht verlieren.
In welcher Hinsicht erscheint (3) bezogen auf (2) und (1) "konsequent"?
Das ist die zentrale, logische Frage von Peirce.
Der Prozeß der Schlußfolgerung wird transparenter, wenn wir
die Aussage (1), von der die Deutung ausgeht, in zwei Teilaussagen zerlegen:
(a) Der Baum ist groß und (b) der Baum wird gefällt.
Die Teilaussage (a) hat dazu beigetragen, das Bezugsobjekt auszuwählen
- der große Baum ist mit dem großen König assoziiert
worden. Die Konklusion überträgt nun die Teilaussage (b) "der
Baum wird gefällt" ebenfalls auf das Bezugsobjekt "König".
Auch hier wird die Aussage in einem noch näher zu bestimmenden
Sinn bildlich auf den König bezogen. Auch der König wird im
übertragenen Sinn "gefällt" werden, das heißt
er verliert seine Macht.
Es gibt folglich zwei bildhafte Beziehungen,
die sich wechselseitig stützen: Die des großen Königs
auf den großen Baum und die des gefällten Baums auf den gestürzten
König. Die Überzeugungskraft einer Schlußfolgerung vermutet
Peirce auch in weniger spekulativen Fällen stets in einer derart
koordinierten Bildlichkeit.
4.2. Verallgemeinerung: die triadische Struktur des Zeichenprozesses
Bevor ich die These am konkreten Beispiel weiter ausführe, komme
ich zu ihrer Verallgemeinerung im Zeichenmodell von Peirce. In einer solchen
Schlußfolgerung so die bereits erwähnte Grundannahme von
Peirce wird eine allgemeine Struktur von Zeichenprozessen offengelegt.
Ein Zeichenprozeß hat für Peirce drei Bezugspunkte, die in
wechselseitiger Abhängigkeit stehen:
Peirce nennt sie (mit nicht immer glücklich gewählten Begriffen,
hier gleich in dt. Übers.):
das Repräsentamen (in unserem Beispiel der Traum)
das Objekt (in unserem Beispiel der König oder sein Schicksal)
und den Interpretanten (in unserem Beispiel die Deutung des Traums)
Ein in Frage stehendes Zeichen nennt Peirce Repräsentamen.
Der Traum ist ein gutes Beispiel, denn ein Repräsentamen ist in der
Regel ein Potential von Interpretationsmöglichkeiten, ein komplexes
sprachliches Gebilde nicht etwa nur ein Einzelzeichen.
Mit dem Begriff Objekt wird
obwohl dies des Begriff nahelegen könnte keine Gegenwelt der
konkreten Dinge eingeführt (hier die Welt der primären Objekte
dort die Welt der abgeleiteten Zeichen). Zeichenobjekte im Sinne von
Peirce können auch diffuse Empfindungen, komplexe mögliche Welten
oder andere Zeichen sein. Objekt ist alles, was im Zeichenprozeß
thematisiert werden kann, dabei aber notwendig abwesend bleibt: Der Traum
des Königs ist nicht der König selbst und die Prophezeiung,
daß der König gestürzt wird, ist nicht der tatsächliche
Sturz des Königs.
Die Eingrenzung des Objekts bleibt wie
im Fall der Traumdeutung stets hypothetisch. Kein Repräsentamen
ist mit einem speziellen Objekt zwingend verbunden. An der Verbindung
von Repräsentamen und Objekt ist stets ein Drittes beteiligt: Der
Interpretant.
Der Interpretant ist ein weiteres
Zeichen, das sich auf die Differenz von Repräsentamen und Objekt
bezieht. Es ist eine Deutung des Zeichens nicht der Deuter. Das Repräsentamen
kann sich auf das Objekt nur beziehen, indem es etwas von seiner eigenen
Art hervorbringt ein weiteres Zeichen, den Interpretanten. Ändert
man den Blickwinkel ist jedes Interpretantenzeichen wiederum ein Repräsentamen,
nach dessen Bezugsobjekt und weiteren Interpretanten gefragt werden kann.
Deshalb ist prinzipiell kein Ende der triadischen Zeichenrelation denkbar.
Nach dieser etwas schwierigen
theoretischen Passage, ist es angebracht, sich bei einem Bildbeispiel
zu erholen (Abb. 4). Es soll zugleich helfen,
die Grundidee des Peirceschen Zeichenmodells zu verstehen. Das Beispiel
ist einem im letzten Jahr erschienen Bilderbuch von Julian
Jusim entnommen (für das ich hier gerne Werbung mache).
Sie sehen auf diesem Bild drei grimmige
Ochsen. Was in diesem Satz zusammengefaßt ist, ist ein komplexer
Zeichenprozeß: Die Farbflächen werden figürlich wahrgenommen,
innerhalb der Gesamtgestalt der Ochsen werden z.B. zwei helle Ohren, zwei
helle Augen und zwei dunkle Nüstern wahrgenommen.
Dem Bild ist damit aber auch ein erster
Gegenstand unterstellt: Es ist auf Tiere bezogen, genauer: auf Ochsen
oder Kühe. Wir können versuchen, das Bild kohärenter zu
machen als es ist und etwa in den diffusen Farbübergang eine Horizontlinie
hineinsehen und die eigentümlichen weißen Formen als Wolken
interpretieren.
Nun fahren Sie bitte mit der Maus über
das Bild und beobachten, was passiert.
Stellt man das Bild der Ochsen auf den Kopf, erscheinen drei Hunde, die
etwas trüb aber brandgefährlich den Betrachter anschauen. Durch
die Drehung um 180° wandelt sich also das Bezugsobjekt des Bildes
vollkommen: Die Ohren der Ochsen sind dem Betrachter nun als Knöchelchen
im Maul der Hunde präsent. Die seitlich stehenden Augen der Ochsen
haben ihre Eigenständigkeit verloren und sind diesem Knochenkörper
einverleibt. Die mögliche Differenzierung dieser Form wird visuell
vom Betrachter nicht mehr realisiert. Stattdessen tauchen aus dem gefleckten
Fell die Triefaugen der Doggen auf, die in das Muster des Ochsenfells
ohne besondere Relevanz integriert wurden.
Als Kippfigur verändert sich das Repräsentamen
nicht nur, indem konstante Formen einfach faktisch umgedreht werden, sondern
mit der Umkehrung werden ganz andere Formrelationen in der Imagination
des Betrachters relevant gemacht. Zugleich entstehen neue Anschlußmöglichkeiten
im Bild: Z. B. können die Wolken, die eigentlich immer schon so aussahen
wie Knochen, nun tatsächlich als Knochen gesehen werden.
Die Kippfigur veranschaulicht den triadischen
Charakter der Zeichenrelation, der im Zentrum der Peirceschen Theorie
steht: Indem ein Repräsentamen einem anderen Objekt zugeordnet wird
und neue Interpretanten freisetzt, verändert es selbst seine Eigenschaften:
Das Repräsentamen sind nicht die materialisierten Farben in einem
abstrakten physikalischen Sinn (factual fact im Sinne von Josef
Albers), sondern die Wahrnehmungsmöglichkeiten dieser Farben und
Formen durch Betrachter. Diese verändern sich, sobald im Bild ein
anderes Objekt erkannt wird. Dadurch verändern sich auch die Interpretanten.
Bereits der "kohärente" Anschluß von anderen Bildmotiven
(wie den Knochenwolken) kann als ein solcher Interpretant bezeichnet werden.
Repräsentamen, Objekt und Interpretanten können somit gar nicht
unabhängig voneinander bestimmt werden, sondern immer nur in einer
dreistelligen Beziehung auf- und zueinander. Das ist der Grundgedanke
des Peirceschen Zeichenmodells.
4.3. Bildlichkeit im Zeichenprozeß
Welche Rolle können Bilder oder Bildlichkeit in einer derart konzipierten
Zeichenrelation spielen?
1. "Bildlichkeit" leistet einen Beitrag zur Auswahl des Objekts
2. "Bildlichkeit" leistet einen Beitrag zur Entwicklung von
Interpretanten
4.3.1. Kriterien bei der Auswahl des Objekts
Kehren wir zum biblischen Traum und seiner Deutung zurück. Wie
kommt der Deuter in dieser Geschichte auf die Idee, den Traum auf den
König zu beziehen?
Eine mögliche Erklärung wurde bereits erwähnt: Der Baum
wird als groß bezeichnet und kann deshalb an den großen, mächtigen
König erinnern. Peirce hat für Relationen dieser Art den Begriff
des ikonischen Zeichens eingeführt. Weniger mißverständlich
ist es, von einer ikonischen Objektrelation zu sprechen:
Eine Objektrelation ist im Sinn von Peirce ikonisch,
wenn bei der Auswahl des Objekts eine Analogie (oder Ähnlichkeit)
zwischen dem Repräsentamen und dem hypothetisch gesetzten Objekt
maßgeblich ist (also z.B. die Analogie zwischen dem großen
mächtigen Baum und dem großen mächtigen König oder
aber die Ähnlichkeit zwischen einer bestimmten Farbkonfiguration
und der wahrnehmbaren Gestalt von Ochsen oder Hunden etc.)
Neben der ikonischen Objektrelation definiert Peirce noch zwei weitere
Prinzipien der Objektauswahl: die indexikalische und die symbolische.
Eine Objektrelation ist indexikalisch, wenn bei der Auswahl
des Objekts die Vorstellung einer Berührung (Kontiguität) zwischen
Repräsentamen und hypothetisch gesetztem Objekt maßgeblich
ist.
So hat die Auswahl des Objekts König
im genannten Beispiel auch einen indexikalischen Aspekt. Der große
mächtige Baum wird nicht auf irgendeinen großen mächtigen
König bezogen, sondern genau auf den König, der den Traum geträumt
hat. Dieser konkrete, individuelle Bezug kann kein ikonischer mehr sein.
Hier wird der Umstand entscheidend, daß der Traum vom König
erinnert wird und der Traumbericht sozusagen seinem Mund entspringt. Damit
wird ein indexikalisches Moment in die Deutung eingeführt.
Peirce nennt die dritte Möglichkeit,
das Objekt innerhalb einer Zeichenrelation zu bestimmen: symbolisch.
Eine Objektrelation ist symbolisch, wenn für die Auswahl des Objekts
eine spezielle semiotische Konvention oder Gewohnheit maßgeblich
ist (was nach Saussure die Korrelation von signifiant und signifié
generell charakterisiert). Ein symbolischer Aspekt der Deutung wäre
zum Beispiel gegeben, wenn Bäume in einer Kultur generell als Herrschaftszeichen
verwendet würden.
Nach Peirce gibt es genau diese drei Kriterien
der Objektrelation: das ikonische Kriterium (auf Analogie oder Ähnlichkeit
beruhend), das indexikalische (auf Berührung oder Kontakt beruhend)
und das symbolische, das sich auf eine Gewohnheit, eine Konvention beruft.
Wie das Beispiel der Traumdeutung zeigt, vermischen und überlagern
sich diese Kriterien im konkreten Zeichenprozeß zu einem nicht immer
leicht auflösbaren Geflecht.
Es ist deshalb nicht sinnvoll, von einem
reinen ikonischen, indexikalischen oder symbolischen Zeichen
zu sprechen. Und es ist auch nicht sinnvoll, ein Bild einfach als ikonisches
Zeichen im Sinne von Peirce zu definieren auch wenn sich Peirce mit
dem Begriff "Icon" auf das griech. Wort für Bild "Eikon"
bezieht. Interessanter ist es, am konkreten Beispiel die Überlagerungen
und vielleicht auch widersprüchlichen Anforderungen der Kategorien
zu analysieren.
4.3.2. Bildlichkeit in der Entwicklung von Interpretantenzeichen
So weit zu einem häufig rezipierten Teil der Peirceschen Theorie.
Ihr volles Potential entfaltet sich jedoch erst dann, wenn man erkennt,
daß Bilder für Peirce nicht nur bei der Auswahl des Bezugsobjekts,
sondern auch bei der Entwicklung von Interpretantenzeichen eine wichtige
und entscheidende Rolle spielen.
Peirce verwendet in dieser Hinsicht häufig den Begriff des Diagrammatischen.
Ich will die folgenden Überlegungen mit einem entsprechenden Zitat
aus den Vorlesungen über Pragmatismus aus dem Jahr 1903 einleiten:
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"All necessary reasoning without exception
is diagrammatic. That is, we construct an icon of our hypothetical
state of things and proceed to observe it. This observation leads
us to suspect that something is true."
"Alles notwendige Schließen ist ausnahmslos diagrammatisch.
Das heißt wir konstruieren ein Ikon unseres hypothetischen Zustandes
der Dinge und
beobachten es weiter. Diese Beobachtung führt uns zu der Vermutung,
daß etwas wahr ist."
(Peirce, Lectures on Pragmatism - Vorlesungen über Pragmatismus,
§162) |
"Logischer Zwang" beruht nach Peirce auf einer bildhaften Beobachtung
von Zeichen. Wir "sehen", wie sich durch den Bezug des Repräsentamen
auf ein Objekt neue Interpretanten entwickeln, ohne den Objektbezug zu
verändern.
Ich möchte diese These wieder am eingeführten Beispiel der hypothetischen
Deutung des Traums verdeutlichen. Das Traumbild vom gestürzten Baum
soll dabei mit Hilfe eines kleinen Diagramms in die Deutung des Traums
überführt werden.
Am Anfang soll eine einfache graphische
Darstellung des Traums stehen: Die weiter unten in den Text eingefügte
Skizze zeigt einen Baum und einen gefällten (umgestürzten) Baum.
Dies entspricht Aussage 1 bei der verbalen Formulierung der Schlußfolgerung.
Ein großer Baum wird gefällt
(Paraphrase des Traums)
Fahren Sie mit der Maus über den linken Teil der Grafik: Damit wird
in die Darstellung des Traums die Hypothese eingetragen, mit der der Traum
gedeutet werden soll: Dem Baum wird eine Krone "aufgesetzt".
Damit wird das Objekt verdeutlicht, auf das sich das Traumbild beziehen
soll. Dies entspricht Aussage 2 bei der verbalen Formulierung der Schlußfolgerung.
Der große Baum
steht für den König (Ansatz der Deutung)
In diesem einfachen Schaubild können nun die Konsequenzen dieser
Hypothese verfolgt werden. Versucht man das Bild kohärent weiterzudenken,
entwickeln sich bestimmte Interpretanten: Was passiert mit der Krone,
wenn der Baum umfällt? Nun: Auch die Krone fällt herunter. Das
Fahren mit der Maus über den rechten Teil der Grafik macht diese
Konsequenz anschaulich. In das Diagramm wird ein weiterer Interpretant
eingetragen: Eine Krone erscheint neben dem umgestürzten Baum. Die
herabgefallene Krone steht für die Aussage (3), die Deutung des Traums:
Auch der König wird gestürzt werden.
Der König wird seine Macht verlieren.
Der Zusammenhang der drei Aussagen kann somit in einem
Diagramm anschaulich entwickelt und nachvollzogen werden. Genau dies wurde
aber als das zentrale logische Problem definiert: Wie kann der Zusammenhang
und die Kohärenz der Aussagen überprüft werden? Verfolgt
man die verschiedenen Entwicklungsstadien des Diagramms kann man nach
Pierce beobachten, wie die Aussagen als Repräsentamen und Interpretanten
auf ein und dasselbe hypothetisch unterstellte Objekt bezogen werden können.
Das gezeichnete Diagramm ist speziell und
damit auch willkürlich. Das dahinter stehende Prinzip der diagrammatischen
Entwicklung von Interpretanten ist dagegen nach Peirce ein allgemeines
Verfahren logischen Denkens.
5. Anwendungsbeispiel
Eine Theorie, die ihre eigenen Beispiele konstruiert, ist selbstverständlich
immer etwas verdächtig. Ich möchte deshalb zum Abschluß
eine mittelalterliche Buchmalerei vorstellen, die den bisher analysierten
biblischen Traum zum Thema hat und die bisher entwickelten Thesen in gewisser
Weise unterstützen kann.
Der Buchmaler hat vermutlich im 2. oder 3. Viertel
des 11. Jahrhunderts im katalanischen Kloster von Roda gearbeitet. Er
hatte die Aufgabe, Bildseiten zu gestalten, die das Buch das alttestamentlichen
Propheten Daniel in einer Gesamtbibel, der sog. Bibel von
Roda (Abb. 6) einleiten sollten.
Meine zentrale These ist, daß der
Buchmaler in der Gestaltung dieser Seite über den Traum und seine
Deutung nachgedacht hat. Er hat die Bibel also nicht nur "illustriert"
(wie man das immer wieder in Abhandlungen über die mittelalterliche
Buchmalerei lesen kann), sondern er hat über den Sinn und den Zusammenhang
dieser Geschichte in seinen Bildern reflektiert. Dazu muß er keineswegs
das Reflexionsniveau angestrebt haben, das Peirce mit seiner semiotischen
Theorie erreichen will: Er muß nicht darüber nachgedacht haben,
wie man mit Bildern nachdenken kann. Es ist vollkommen ausreichend,
wenn er das Denken in Bildern praktiziert hat. Auf diese
Praxis will ich im folgenden aufmerksam machen.
Das 48 cm x 33,5 cm große Pergament
ist in drei Register oder Kompartimente unterteilt. Das erste Feld oben
nimmt mehr Fläche in Anspruch als die beiden folgenden Bildstreifen
zusammengenommen. Es ist auch nicht durch eine zusätzliche Rahmenlinie
begrenzt, obwohl es sich recht genau in eine imaginäre quadratische
Begrenzungslinie einfügt. In diesem großen Bildfeld ist das
Traumbild des Nebukadnezar untergebracht. Ein großer stilisierter
Baum, der an schmiedeeiserne Formen erinnert, ist bildbeherrschend in
die vertikale Symmetrieachse des Feldes gerückt. In der oberen Bildhälfte
verstecken sich im ausladenden Geäst eine Vielzahl von Vögeln
(Abb. 7). Mitunter muß man genau hinschauen, um ihre Umrißlinien
aus dem verschlungenen Blattwerk lösen zu können. Insgesamt
lassen sich zehn symmetrisch plazierte Vögel finden. Ähnlich
wie bei der vorher betrachteten Kippfigur kommt es zu dynamischen Prozessen
der Gestaltbildung: Der Betrachter kann auch in diesem Bild seine
eigene Imagination bei der Arbeit beobachten.
Unter dem Baum sieht man ein Gewimmel von
mitunter phantastisch anmutenden Vierbeinern. Alle Tiere scheinen ein
wenig in ihrer eigenen Welt zu leben. Manche Bewegungsräume verbinden
sich jedoch: Steigt der zottige Widder nicht auf die bärtige Ziege
(Abb. 8)? Das vielgestaltige Bild aktiviert die Vorstellungskraft des
Betrachters, in der er sich mit dem dargestellten Träumer verbunden
fühlen kann.
Die Frage, woran man das Bild überhaupt
als Traumdarstellung erkennen kann, kann hier nur gestreift werden: Im
linken unteren Eck sieht man eine menschliche Gestalt mit Krone, die im
Bett liegt (Abb. 8). Damit ist der König Nebukadnezar gemeint, der
den Traum träumt. In der Mitte des Bildes, dort wo der Stamm in die
Äste des Baums übergeht, ist die rechte Hand Gottes in einem
Medaillon dargestellt. Die Adressierung des Träumers durch die sendende
Hand Gottes ist ein typisches Darstellungsmuster für eine Traumvision.
Ein Beispiel wurde mit dem Traum des Ananias aus der karolingischen Bibel
bereits vorgestellt (Abb. 9). Die Motivkonstellation ist ein konventioneller
(im Sinne von Peirce: symbolischer) Verweis auf das mittelalterliche Konzept
einer Traumvision.
Die interessante Frage nach dem Verhältnis
von Träumer und Traumbild kann ebenfalls nur kurz angesprochen werden.
Bezieht man die erhobene Hand des Königs auf das fauchende Stachelschwein
und den bedrohlichen Greifenschnabel, scheint der schlafende König
ein direkter szenischer Bestandteil des Traumbilds zu sein. Bezieht man
die erhobene Hand auf die gesenkte Hand Gottes, steht sie für den
Versuch einer kognitiven Distanzierung von den Tiergestalten. Der König
scheint sich dann aus seinem Traumbild herausreflektieren zu wollen, nach
dessen Bedeutung zu fragen.
Im Aufbau der Bildregister ist jedoch nicht
nur die Perspektive des träumenden Nebukadnezar, sondern auch die
des traumdeutenden Daniel angelegt ist. Der Akt der Deutung ist im linken
kleinen Bildquadrat des mittleren Registers dargestellt (Abb. 10): Der
König sitzt dem Propheten gegenüber, der mit ausgestrecktem
Zeigefinger auf ihn verweist und damit den zentralen Satz seiner Deutung
zu sprechen scheint: "Oh König, der große Baum, das bist
Du!" Im großen Traumbild oben deutet eigentlich nichts auf
diese Gleichsetzung hin: Der Baum steht ebenso zeichenhaft wie bildbeherrschend
in der Symmetrieachse. Der König ist klein ins Eck gedrängt
und scheint auf den ersten Blick eher zum Ensemble der Vierbeiner zu gehören.
Überschaut man jedoch die ganze Bildseite,
gibt es bestimmte Aspekte im Aufbau des Traumbilds, die auf die Gleichsetzung
von Traum und König hinweisen. Betrachten wir, wie der Buchmaler
das Ende der Geschichte im unteren Bildregister gestaltet hat (Abb. 11).
Man sieht dort die eindrucksvolle Darstellung des entmachteten und wahnsinnig
gewordenen Königs. Nackt, auf allen Vieren, mit drei langen Haarsträhnen
und krallenartig angewachsenen Fingernägeln, wendet der Zeichner
das bereits eingeführte Schema der Vierbeiner auf die menschliche
Gestalt an. Der König ist endgültig zu einem Teil der Tierwelt
geworden und kann nicht mehr nach deren Bedeutung fragen.
Die Positionierung und Dimensionierung des
Königs ist ein entscheidendes diagrammatisches Merkmal. Denn hiermit
hat der Buchmaler den ersten Schritt in der Deutung des Propheten, den
Bezug des Königs auf den Baum, nachvollzogen: Wie der Baum im großen
Bildfeld oben, steht der König unten als übergroße Gestalt
in der Mitte zwischen Tieren (Abb. 6).
Diese Beobachtung gewinnt an Relevanz, wenn
man bemerkt, daß auch der zweite Schritt der Deutung, in der Gestaltung
der Bildseite nachvollzogen wurde. Wieder muß man herausfinden,
auf welche Züge im Aufbau des Traumbildes man achten soll und mit
welchen Motiven der folgenden Bildfelder man sie in Beziehung setzen soll.
Betrachten wir das rechte Bildfeld des mittleren
Registers (Abb. 12). Drei Männer gehen gegen den König vor.
Zwei haben ihn vom Thron gehoben, der verwaist am linken Bildrand stehen
bleibt. Der Dritte hält in der einen Hand einen drohend erhobenen
Wurfgegenstand und zeigt mit der anderen Hand nach oben auf das Traumbild.
Diese Geste unterstreicht, daß im Traum der Schlüssel für
sein Tun zu erkennen ist. Der entscheidende Zug des Traumbilds, der dabei
relevant wird, sind die beiden bisher noch nicht erwähnten Holzfäller,
die auf Geheiß der göttlichen Stimme hin tätig werden.
Sie attackieren den Baum von zwei Seiten, mit ausgreifendem Schritt, ähnlich
wie die beiden Umstürzler unten den König gepackt haben. In
dieser Koordination von Motiven hat der Buchmaler den zweiten Schritt
der Deutung sichtbar gemacht: Die Analogie zwischen dem Fällen des
Baums und dem Sturz des Königs.
Kurzes Fazit:
Die Überlegungen könnten nun in zwei verschiedene Richtungen
weitergeführt werden:
Auf der einen Seite könnte man weitere Argumente dafür suchen,
daß der Buchmaler die Koordination der Bildfelder tatsächlich
so intendiert hat. Damit wird die Frage aufgeworfen, wie eine solche Bildpraxis
in der Kultur eines christlichen Klosters des Mittelalters überhaupt
verankert sein konnte. Diese Frage kann hier nicht weiterverfolgt werden.
Ich möchte jedoch Mißverständnissen vorbeugen und betonen,
daß diese Frage durch die Beschreibung der Phänomene mit Kategorien
der Peirceschen Semiotik allenfalls aufgeworfen, aber keineswegs beantwortet
ist.
Auf der anderen Seite kann man sich damit
zufrieden geben, eine mögliche Form der Bildpraxis aufgezeigt zu
haben und versuchen, diese semiotische Möglichkeit in ihren Grundzügen
zu verstehen. In dieser Hinsicht schlage ich folgendes vor: Mit Peirce
kann grundsätzlich zwischen zwei Aspekten der Bildlichkeit unterschieden
werden: Der eine betrifft das ikonische Verhältnis von Repräsentamen
und Objekt, und kann als illusionistische oder mimetische
Bildlichkeit bezeichnet werden: Hier dient das Bild dazu, die Präsenz
von Objekten zu simulieren. In der Wahrnehmung illusionistischer Bildformen
als Gestalteinheit ist, wie die Kippfigur des Ochsen/Hunde zeigt, immer
auch die Vorstellung der jeweiligen Objekte inbegriffen.
< Die andere Form der Bildlichkeit betrifft
das Verhältnis zwischen Repräsentamen und Interpretant: Dies
können Teilflächen eines Bildes oder unterschiedliche Stadien
eines graphischen Prozesses sein. Hier wird bildhaft gesehen, daß
die ikonische Beziehung zwischen Repräsentamen und Objekt die Möglichkeit
einer konsequenten Entwicklung von Interpretanten schafft. Diese Bildlichkeit
möchte ich als logische oder diagrammatische Bildlichkeit
bezeichnen. Bildlich bleibt diese Beziehung unter anderem deshalb, weil
hier Zeichen untereinander, im Hinblick auf ihre relevanten Kategorien
anschaulich verglichen werden.
Das diagrammatische Verfahren scheint mir
ein ebenso grundlegendes semiotisches Prinzip zu sein wie das mimetische.
Es wird jedoch weder in kunsttheoretischen Diskursen noch in den neuen
Überlegungen zur ‚visual culture‘ gleichberechtigt reflektiert.
Zumindest in diesem Aspekt scheint die alte Semiotik einen wesentlichen
Beitrag zur neuen Bilderwissenschaft leisten zu können.
Bildbeispiele
Bibel von San Paolo fuori le mura, Rom,
Bibliothek von San Paolo fuori le mura, fol. 307v, Bildseite vor den Paulusbriefen,
450x350mm, um 870
Roda-Bibel, Paris, Bibl. Nat. MS lat. 6, fol.
65v, Bildseite vor dem Buch Daniel, 488x335mm, 11. Jh.
Juliam Jusim, Kopfunter/Kopfüber. Ein Bilderbuch zum Drehen,
mit Versen von Mirjam Pressler, Wien 1999.
Literaturliste
Semiotik
Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique
générale, Paris 1979.
Algirdas Julien Greimas/Joseph Courtés,
Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie
du langage, Bd. 1 u. 2., Paris 1979 u. 1986.
Charles S. Peirce, Lectures on Pragmatism - Vorlesungen
über Pragmatismus, mit Einl. und Anm. hrsg. von Elisabeth Walther,
Hamburg 1973 (Philosophische Bibliothek, 281).
Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg.
und übers. von Helmut Pape, Frankfurt a. M. 1983.
Charles S. Pierce, Semiotische Schriften, hrsg. und übers.
von Christian Kloesel und Helmut Pape, Bd. 1-3, Frankfurt a. M. 1986-1993.
Bildtheorie/Bildsemiotik
Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?,
München 1994.
James Elkins, On Pictures and the Words that
fail them, Cambridge 1998.
William J. T. Mitchell, Picture Theory. Essays
on Verbal and Visual Representation, Chicago/London 1994.
Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes.
Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Hamburg 1997.
Mieke Bal/Norman Bryson, "Semiotics and Art History",
in: The Art Bulletin 73.2 (1991), 174-208.
Christian Metz, Semiologie des Films, München
1972.
Felix Thürlemann, Vom Bild zum Raum.
Beiträge zu einer semitotischen Kunstwissenschaft, Köln
1990.
Klaus Sachs-Hombach/Klaus Rehkämper (Hg.), Bildgrammatik.
Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen,
Magdeburg 1999 (Reihe Bildwissenschaft).
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