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Roda-Bibel, Paris, Bibl. Nat. MS lat. 6, fol. 65v, Bildseite
vor dem Buch Daniel, 488x335mm, 11. Jh. |
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5. Anwendungsbeispiel
Eine Theorie, die ihre eigenen Beispiele konstruiert, ist selbstverständlich
immer etwas verdächtig. Ich möchte deshalb zum Abschluß
eine mittelalterliche Buchmalerei vorstellen, die den bisher analysierten
biblischen Traum zum Thema hat und die bisher entwickelten Thesen in gewisser
Weise unterstützen kann.
Der Buchmaler hat vermutlich im 2. oder 3. Viertel
des 11. Jahrhunderts im katalanischen Kloster von Roda gearbeitet. Er
hatte die Aufgabe, Bildseiten zu gestalten, die das Buch das alttestamentlichen
Propheten Daniel in einer Gesamtbibel, der sog. Bibel von
Roda (Abb. 6) einleiten sollten.
Meine zentrale These ist, daß der Buchmaler in der Gestaltung dieser
Seite über den Traum und seine Deutung nachgedacht hat. Er hat die
Bibel also nicht nur "illustriert" (wie man das immer wieder
in Abhandlungen über die mittelalterliche Buchmalerei lesen kann),
sondern er hat über den Sinn und den Zusammenhang dieser Geschichte
in seinen Bildern reflektiert. Dazu muß er keineswegs das Reflexionsniveau
angestrebt haben, das Peirce mit seiner semiotischen Theorie erreichen
will: Er muß nicht darüber nachgedacht haben, wie man
mit Bildern nachdenken kann. Es ist vollkommen ausreichend, wenn er das
Denken in Bildern praktiziert hat. Auf diese Praxis will
ich im folgenden aufmerksam machen.
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Ein Anklicken der Detailabbildungen
ermöglicht es auch zur Gesamtansicht der Bildseite überzuwechseln.
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Roda-Bibel, Detail |
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8 Roda-Bibel,
Detail
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Vivian-Bibel, Detail |
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Das 48 cm x 33,5 cm große Pergament ist in drei Register oder Kompartimente
unterteilt. Das erste Feld oben nimmt mehr Fläche in Anspruch als
die beiden folgenden Bildstreifen zusammengenommen. Es ist auch nicht
durch eine zusätzliche Rahmenlinie begrenzt, obwohl es sich recht
genau in eine imaginäre quadratische Begrenzungslinie einfügt.
In diesem großen Bildfeld ist das Traumbild des Nebukadnezar untergebracht.
Ein großer stilisierter Baum, der an schmiedeeiserne Formen erinnert,
ist bildbeherrschend in die vertikale Symmetrieachse des Feldes gerückt.
In der oberen Bildhälfte verstecken sich im ausladenden Geäst
eine Vielzahl von Vögeln (Abb. 7). Mitunter
muß man genau hinschauen, um ihre Umrißlinien aus dem verschlungenen
Blattwerk lösen zu können. Insgesamt lassen sich zehn symmetrisch
plazierte Vögel finden. Ähnlich wie bei der vorher betrachteten
Kippfigur kommt es zu dynamischen Prozessen der Gestaltbildung: Der Betrachter
kann – auch in diesem Bild – seine eigene Imagination bei der Arbeit beobachten.
Unter dem Baum sieht man ein Gewimmel von mitunter phantastisch anmutenden
Vierbeinern. Alle Tiere scheinen ein wenig in ihrer eigenen Welt zu leben.
Manche Bewegungsräume verbinden sich jedoch: Steigt der zottige Widder
nicht auf die bärtige Ziege (Abb. 8)?
Das vielgestaltige Bild aktiviert die Vorstellungskraft des Betrachters,
in der er sich mit dem dargestellten Träumer verbunden fühlen
kann.
Die Frage, woran man das Bild überhaupt als Traumdarstellung erkennen
kann, kann hier nur gestreift werden: Im linken unteren Eck sieht man
eine menschliche Gestalt mit Krone, die im Bett liegt (Abb.
8). Damit ist der König Nebukadnezar gemeint, der den Traum träumt.
In der Mitte des Bildes, dort wo der Stamm in die Äste des Baums
übergeht, ist die rechte Hand Gottes in einem Medaillon dargestellt.
Die Adressierung des Träumers durch die sendende Hand Gottes ist
ein typisches Darstellungsmuster für eine Traumvision. Ein Beispiel
wurde mit dem Traum des Ananias aus der karolingischen Bibel bereits vorgestellt
(Abb. 9). Die Motivkonstellation ist ein konventioneller
(im Sinne von Peirce: symbolischer) Verweis auf das mittelalterliche Konzept
einer Traumvision.
Die interessante Frage nach dem Verhältnis von Träumer und Traumbild
kann ebenfalls nur kurz angesprochen werden. Bezieht man die erhobene
Hand des Königs auf das fauchende Stachelschwein und den bedrohlichen
Greifenschnabel, scheint der schlafende König ein direkter szenischer
Bestandteil des Traumbilds zu sein. Bezieht man die erhobene Hand auf
die gesenkte Hand Gottes, steht sie für den Versuch einer kognitiven
Distanzierung von den Tiergestalten. Der König scheint sich dann
aus seinem Traumbild herausreflektieren zu wollen, nach dessen Bedeutung
zu fragen.
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Roda-Bibel, Detail |
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11
Roda-Bibel, Detail
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Im Aufbau der Bildregister ist jedoch nicht nur die Perspektive des träumenden
Nebukadnezar, sondern auch die des traumdeutenden Daniel angelegt ist.
Der Akt der Deutung ist im linken kleinen Bildquadrat des mittleren Registers
dargestellt (Abb. 10): Der König sitzt
dem Propheten gegenüber, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn
verweist und damit den zentralen Satz seiner Deutung zu sprechen scheint:
"Oh König, der große Baum, das bist Du!" Im großen
Traumbild oben deutet eigentlich nichts auf diese Gleichsetzung hin: Der
Baum steht ebenso zeichenhaft wie bildbeherrschend in der Symmetrieachse.
Der König ist klein ins Eck gedrängt und scheint auf den ersten
Blick eher zum Ensemble der Vierbeiner zu gehören.
Überschaut man jedoch die ganze Bildseite, gibt es bestimmte Aspekte
im Aufbau des Traumbilds, die auf die Gleichsetzung von Traum und König
hinweisen. Betrachten wir, wie der Buchmaler das Ende der Geschichte im
unteren Bildregister gestaltet hat (Abb. 11).
Man sieht dort die eindrucksvolle Darstellung des entmachteten und wahnsinnig
gewordenen Königs. Nackt, auf allen Vieren, mit drei langen Haarsträhnen
und krallenartig angewachsenen Fingernägeln, wendet der Zeichner
das bereits eingeführte Schema der Vierbeiner auf die menschliche
Gestalt an. Der König ist endgültig zu einem Teil der Tierwelt
geworden und kann nicht mehr nach deren Bedeutung fragen.
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Die Positionierung und Dimensionierung des Königs ist ein entscheidendes
diagrammatisches Merkmal. Denn hiermit hat der Buchmaler den ersten Schritt
in der Deutung des Propheten, den Bezug des Königs auf den Baum,
nachvollzogen: Wie der Baum im großen Bildfeld oben, steht der König
unten als übergroße Gestalt in der Mitte zwischen Tieren (Abb.
6).
Diese Beobachtung gewinnt an Relevanz, wenn man bemerkt, daß auch
der zweite Schritt der Deutung, in der Gestaltung der Bildseite nachvollzogen
wurde. Wieder muß man herausfinden, auf welche Züge im Aufbau
des Traumbildes man achten soll und mit welchen Motiven der folgenden
Bildfelder man sie in Beziehung setzen soll.
Betrachten wir das rechte Bildfeld des mittleren Registers (Abb.
12). Drei Männer gehen gegen den König vor. Zwei haben ihn
vom Thron gehoben, der verwaist am linken Bildrand stehen bleibt. Der
Dritte hält in der einen Hand einen drohend erhobenen Wurfgegenstand
und zeigt mit der anderen Hand nach oben auf das Traumbild. Diese Geste
unterstreicht, daß im Traum der Schlüssel für sein Tun
zu erkennen ist. Der entscheidende Zug des Traumbilds, der dabei relevant
wird, sind die beiden bisher noch nicht erwähnten Holzfäller,
die auf Geheiß der göttlichen Stimme hin tätig werden.
Sie attackieren den Baum von zwei Seiten, mit ausgreifendem Schritt, ähnlich
wie die beiden Umstürzler unten den König gepackt haben. In
dieser Koordination von Motiven hat der Buchmaler den zweiten Schritt
der Deutung sichtbar gemacht: Die Analogie zwischen dem Fällen des
Baums und dem Sturz des Königs.
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Roda-Bibel, Gesamtansicht |
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Die Bildseite ist viel komplexer und kunstvoller
aufgebaut als mein oben angeführtes, ebenso einfaches wie dilettantisches
Diagramm der Geschichte. Dennoch arbeitet der Buchmaler mit einem im Prinzip
ähnlichen System, die Deutung des Traums aus einer diagrammatischen
Transformation des Traumbilds heraus zu entwickeln:
Zusammenfassend kann man festhalten, daß zwei Grundzüge des
Traumbilds im Lauf der Bilderzählung wiederholt werden: Die Konstellation
von Baum und Tieren und die Konstellation von Baum und Baumfäller
(Abb. 6). In beiden Wiederholungen wird die
Gestalt des Baums durch die Gestalt des Königs ersetzt. Damit wird
eine koordinierte Bildlichkeit geschaffen, die der Deutung des Propheten
eine gewisse Überzeugungskraft verleiht: Wir können an der Seite
des Buchmalers anschaulich nachvollziehen, wie sich durch die Parallelisierung
von Baum und König (in der Mittelachse des Bildes) neue, konsequente
Interpretanten entwickeln: Das Tun der Umstürzler kann durch die
Gleichsetzung von Baum und König aus dem Tun der Holzfäller
abgeleitet werden. Der Fingerzeig der dritten Person scheint auf diesen
logischen Zusammenhang hinzuweisen.
Wie gesagt: der Buchmaler muß nicht darüber nachgedacht haben,
wie man mit Bildern denken kann, aber die Bildseite legt Zeugnis darüber
ab, daß er in Bildern gedacht hat.
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Kurzes Fazit:
Die Überlegungen könnten nun in zwei verschiedene Richtungen
weitergeführt werden:
Auf der einen Seite könnte man weitere Argumente dafür suchen,
daß der Buchmaler die Koordination der Bildfelder tatsächlich
so intendiert hat. Damit wird die Frage aufgeworfen, wie eine solche Bildpraxis
in der Kultur eines christlichen Klosters des Mittelalters überhaupt
verankert sein konnte. Diese Frage kann hier nicht weiterverfolgt werden.
Ich möchte jedoch Mißverständnissen vorbeugen und betonen,
daß diese Frage durch die Beschreibung der Phänomene mit Kategorien
der Peirceschen Semiotik allenfalls aufgeworfen, aber keineswegs beantwortet
ist.
Auf der anderen Seite kann man sich damit zufrieden geben, eine mögliche
Form der Bildpraxis aufgezeigt zu haben und versuchen, diese semiotische
Möglichkeit in ihren Grundzügen zu verstehen. In dieser Hinsicht
schlage ich folgendes vor: Mit Peirce kann grundsätzlich zwischen
zwei Aspekten der Bildlichkeit unterschieden werden: Der eine betrifft
das ikonische Verhältnis von Repräsentamen und Objekt, und kann
als illusionistische oder mimetische Bildlichkeit bezeichnet
werden: Hier dient das Bild dazu, die Präsenz von Objekten zu simulieren.
In der Wahrnehmung illusionistischer Bildformen als Gestalteinheit ist,
wie die Kippfigur des Ochsen/Hunde zeigt, immer auch die Vorstellung der
jeweiligen Objekte inbegriffen.
Die andere Form der Bildlichkeit betrifft das Verhältnis zwischen
Repräsentamen und Interpretant: Dies können Teilflächen
eines Bildes oder unterschiedliche Stadien eines graphischen Prozesses
sein. Hier wird bildhaft gesehen, daß die ikonische Beziehung zwischen
Repräsentamen und Objekt die Möglichkeit einer konsequenten
Entwicklung von Interpretanten schafft. Diese Bildlichkeit möchte
ich als logische oder diagrammatische Bildlichkeit bezeichnen.
Bildlich bleibt diese Beziehung unter anderem deshalb, weil hier Zeichen
untereinander, im Hinblick auf ihre relevanten Kategorien anschaulich
verglichen werden.
Das diagrammatische Verfahren scheint mir ein ebenso grundlegendes semiotisches
Prinzip zu sein wie das mimetische. Es wird jedoch weder in kunsttheoretischen
Diskursen noch in den neuen Überlegungen zur ‚visual culture‘
gleichberechtigt reflektiert. Zumindest in diesem Aspekt scheint die alte
Semiotik einen wesentlichen Beitrag zur neuen Bilderwissenschaft leisten
zu können.
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Bildbeispiele
Bibel von San Paolo fuori le mura, Rom,
Bibliothek von San Paolo fuori le mura, fol. 307v, Bildseite vor den Paulusbriefen,
450x350mm, um 870
Roda-Bibel, Paris, Bibl. Nat. MS lat. 6, fol.
65v, Bildseite vor dem Buch Daniel, 488x335mm, 11. Jh.
Juliam Jusim, Kopfunter/Kopfüber. Ein Bilderbuch
zum Drehen, mit Versen von Mirjam Pressler, Wien 1999.
Literaturliste
Semiotik
Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique
générale, Paris 1979.
Algirdas Julien Greimas/Joseph Courtés,
Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie
du langage, Bd. 1 u. 2., Paris 1979 u. 1986.
Charles S. Peirce, Lectures on Pragmatism - Vorlesungen
über Pragmatismus, mit Einl. und Anm. hrsg. von Elisabeth Walther,
Hamburg 1973 (Philosophische Bibliothek, 281).
Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg.
und übers. von Helmut Pape, Frankfurt a. M. 1983.
Charles S. Pierce, Semiotische Schriften, hrsg. und übers.
von Christian Kloesel und Helmut Pape, Bd. 1-3, Frankfurt a. M. 1986-1993.
Bildtheorie/Bildsemiotik
Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?,
München 1994.
James Elkins, On Pictures and the Words that
fail them, Cambridge 1998.
William J. T. Mitchell, Picture Theory. Essays
on Verbal and Visual Representation, Chicago/London 1994.
Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes.
Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Hamburg 1997.
Mieke Bal/Norman Bryson, "Semiotics and Art History",
in: The Art Bulletin 73.2 (1991), 174-208.
Christian Metz, Semiologie des Films, München
1972.
Felix Thürlemann, Vom Bild zum Raum.
Beiträge zu einer semitotischen Kunstwissenschaft, Köln
1990.
Klaus Sachs-Hombach/Klaus Rehkämper (Hg.), Bildgrammatik.
Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen,
Magdeburg 1999 (Reihe Bildwissenschaft).
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