Konstanz - Kunstwissenschaft


  Bildsemiotik - Teil 4


Steffen Bogen, Kunstwissenschaft/Kunstgeschichte,
Universität Konstanz




6 Roda-Bibel, Paris, Bibl. Nat. MS lat. 6, fol. 65v, Bildseite vor dem Buch Daniel, 488x335mm, 11. Jh. 
5. Anwendungsbeispiel


Eine Theorie, die ihre eigenen Beispiele konstruiert, ist selbstverständlich immer etwas verdächtig. Ich möchte deshalb zum Abschluß eine mittelalterliche Buchmalerei vorstellen, die den bisher analysierten biblischen Traum zum Thema hat und die bisher entwickelten Thesen in gewisser Weise unterstützen kann.

Der Buchmaler hat vermutlich im 2. oder 3. Viertel des 11. Jahrhunderts im katalanischen Kloster von Roda gearbeitet. Er hatte die Aufgabe, Bildseiten zu gestalten, die das Buch das alttestamentlichen Propheten Daniel in einer Gesamtbibel, der sog. Bibel von Roda (Abb. 6) einleiten sollten.

Meine zentrale These ist, daß der Buchmaler in der Gestaltung dieser Seite über den Traum und seine Deutung nachgedacht hat. Er hat die Bibel also nicht nur "illustriert" (wie man das immer wieder in Abhandlungen über die mittelalterliche Buchmalerei lesen kann), sondern er hat über den Sinn und den Zusammenhang dieser Geschichte in seinen Bildern reflektiert. Dazu muß er keineswegs das Reflexionsniveau angestrebt haben, das Peirce mit seiner semiotischen Theorie erreichen will: Er muß nicht darüber nachgedacht haben, wie man mit Bildern nachdenken kann. Es ist vollkommen ausreichend, wenn er das Denken in Bildern praktiziert hat. Auf diese Praxis will ich im folgenden aufmerksam machen.

Ein Anklicken der Detailabbildungen ermöglicht es auch zur Gesamtansicht der Bildseite überzuwechseln.

 

Roda-Bibel, Detail

7 Roda-Bibel, Detail
 
Roda-Bibel, Detail

8 Roda-Bibel, Detail

 

 

Vivian-Bibel,  Detail
9 Vivian-Bibel, Detail

Das 48 cm x 33,5 cm große Pergament ist in drei Register oder Kompartimente unterteilt. Das erste Feld oben nimmt mehr Fläche in Anspruch als die beiden folgenden Bildstreifen zusammengenommen. Es ist auch nicht durch eine zusätzliche Rahmenlinie begrenzt, obwohl es sich recht genau in eine imaginäre quadratische Begrenzungslinie einfügt. In diesem großen Bildfeld ist das Traumbild des Nebukadnezar untergebracht. Ein großer stilisierter Baum, der an schmiedeeiserne Formen erinnert, ist bildbeherrschend in die vertikale Symmetrieachse des Feldes gerückt. In der oberen Bildhälfte verstecken sich im ausladenden Geäst eine Vielzahl von Vögeln (Abb. 7). Mitunter muß man genau hinschauen, um ihre Umrißlinien aus dem verschlungenen Blattwerk lösen zu können. Insgesamt lassen sich zehn symmetrisch plazierte Vögel finden. Ähnlich wie bei der vorher betrachteten Kippfigur kommt es zu dynamischen Prozessen der Gestaltbildung: Der Betrachter kann – auch in diesem Bild – seine eigene Imagination bei der Arbeit beobachten.

Unter dem Baum sieht man ein Gewimmel von mitunter phantastisch anmutenden Vierbeinern. Alle Tiere scheinen ein wenig in ihrer eigenen Welt zu leben. Manche Bewegungsräume verbinden sich jedoch: Steigt der zottige Widder nicht auf die bärtige Ziege (Abb. 8)? Das vielgestaltige Bild aktiviert die Vorstellungskraft des Betrachters, in der er sich mit dem dargestellten Träumer verbunden fühlen kann.

Die Frage, woran man das Bild überhaupt als Traumdarstellung erkennen kann, kann hier nur gestreift werden: Im linken unteren Eck sieht man eine menschliche Gestalt mit Krone, die im Bett liegt (Abb. 8). Damit ist der König Nebukadnezar gemeint, der den Traum träumt. In der Mitte des Bildes, dort wo der Stamm in die Äste des Baums übergeht, ist die rechte Hand Gottes in einem Medaillon dargestellt. Die Adressierung des Träumers durch die sendende Hand Gottes ist ein typisches Darstellungsmuster für eine Traumvision. Ein Beispiel wurde mit dem Traum des Ananias aus der karolingischen Bibel bereits vorgestellt (Abb. 9). Die Motivkonstellation ist ein konventioneller (im Sinne von Peirce: symbolischer) Verweis auf das mittelalterliche Konzept einer Traumvision.

Die interessante Frage nach dem Verhältnis von Träumer und Traumbild kann ebenfalls nur kurz angesprochen werden. Bezieht man die erhobene Hand des Königs auf das fauchende Stachelschwein und den bedrohlichen Greifenschnabel, scheint der schlafende König ein direkter szenischer Bestandteil des Traumbilds zu sein. Bezieht man die erhobene Hand auf die gesenkte Hand Gottes, steht sie für den Versuch einer kognitiven Distanzierung von den Tiergestalten. Der König scheint sich dann aus seinem Traumbild herausreflektieren zu wollen, nach dessen Bedeutung zu fragen.

Roda-Bibel, Detail
10 Roda-Bibel, Detail
Roda-Bibel, Detail
11 Roda-Bibel, Detail

Im Aufbau der Bildregister ist jedoch nicht nur die Perspektive des träumenden Nebukadnezar, sondern auch die des traumdeutenden Daniel angelegt ist. Der Akt der Deutung ist im linken kleinen Bildquadrat des mittleren Registers dargestellt (Abb. 10): Der König sitzt dem Propheten gegenüber, der mit ausgestrecktem Zeigefinger auf ihn verweist und damit den zentralen Satz seiner Deutung zu sprechen scheint: "Oh König, der große Baum, das bist Du!" Im großen Traumbild oben deutet eigentlich nichts auf diese Gleichsetzung hin: Der Baum steht ebenso zeichenhaft wie bildbeherrschend in der Symmetrieachse. Der König ist klein ins Eck gedrängt und scheint auf den ersten Blick eher zum Ensemble der Vierbeiner zu gehören.

Überschaut man jedoch die ganze Bildseite, gibt es bestimmte Aspekte im Aufbau des Traumbilds, die auf die Gleichsetzung von Traum und König hinweisen. Betrachten wir, wie der Buchmaler das Ende der Geschichte im unteren Bildregister gestaltet hat (Abb. 11). Man sieht dort die eindrucksvolle Darstellung des entmachteten und wahnsinnig gewordenen Königs. Nackt, auf allen Vieren, mit drei langen Haarsträhnen und krallenartig angewachsenen Fingernägeln, wendet der Zeichner das bereits eingeführte Schema der Vierbeiner auf die menschliche Gestalt an. Der König ist endgültig zu einem Teil der Tierwelt geworden und kann nicht mehr nach deren Bedeutung fragen.

12 Roda-Bibel, Detail

Die Positionierung und Dimensionierung des Königs ist ein entscheidendes diagrammatisches Merkmal. Denn hiermit hat der Buchmaler den ersten Schritt in der Deutung des Propheten, den Bezug des Königs auf den Baum, nachvollzogen: Wie der Baum im großen Bildfeld oben, steht der König unten als übergroße Gestalt in der Mitte zwischen Tieren (Abb. 6).

Diese Beobachtung gewinnt an Relevanz, wenn man bemerkt, daß auch der zweite Schritt der Deutung, in der Gestaltung der Bildseite nachvollzogen wurde. Wieder muß man herausfinden, auf welche Züge im Aufbau des Traumbildes man achten soll und mit welchen Motiven der folgenden Bildfelder man sie in Beziehung setzen soll.

Betrachten wir das rechte Bildfeld des mittleren Registers (Abb. 12). Drei Männer gehen gegen den König vor. Zwei haben ihn vom Thron gehoben, der verwaist am linken Bildrand stehen bleibt. Der Dritte hält in der einen Hand einen drohend erhobenen Wurfgegenstand und zeigt mit der anderen Hand nach oben auf das Traumbild. Diese Geste unterstreicht, daß im Traum der Schlüssel für sein Tun zu erkennen ist. Der entscheidende Zug des Traumbilds, der dabei relevant wird, sind die beiden bisher noch nicht erwähnten Holzfäller, die auf Geheiß der göttlichen Stimme hin tätig werden. Sie attackieren den Baum von zwei Seiten, mit ausgreifendem Schritt, ähnlich wie die beiden Umstürzler unten den König gepackt haben. In dieser Koordination von Motiven hat der Buchmaler den zweiten Schritt der Deutung sichtbar gemacht: Die Analogie zwischen dem Fällen des Baums und dem Sturz des Königs.

Roda-Bibel
6 Roda-Bibel, Gesamtansicht

Die Bildseite ist viel komplexer und kunstvoller aufgebaut als mein oben angeführtes, ebenso einfaches wie dilettantisches Diagramm der Geschichte. Dennoch arbeitet der Buchmaler mit einem im Prinzip ähnlichen System, die Deutung des Traums aus einer diagrammatischen Transformation des Traumbilds heraus zu entwickeln:

Zusammenfassend kann man festhalten, daß zwei Grundzüge des Traumbilds im Lauf der Bilderzählung wiederholt werden: Die Konstellation von Baum und Tieren und die Konstellation von Baum und Baumfäller (Abb. 6). In beiden Wiederholungen wird die Gestalt des Baums durch die Gestalt des Königs ersetzt. Damit wird eine koordinierte Bildlichkeit geschaffen, die der Deutung des Propheten eine gewisse Überzeugungskraft verleiht: Wir können an der Seite des Buchmalers anschaulich nachvollziehen, wie sich durch die Parallelisierung von Baum und König (in der Mittelachse des Bildes) neue, konsequente Interpretanten entwickeln: Das Tun der Umstürzler kann durch die Gleichsetzung von Baum und König aus dem Tun der Holzfäller abgeleitet werden. Der Fingerzeig der dritten Person scheint auf diesen logischen Zusammenhang hinzuweisen.

Wie gesagt: der Buchmaler muß nicht darüber nachgedacht haben, wie man mit Bildern denken kann, aber die Bildseite legt Zeugnis darüber ab, daß er in Bildern gedacht hat.


  Kurzes Fazit:


Die Überlegungen könnten nun in zwei verschiedene Richtungen weitergeführt werden:

Auf der einen Seite könnte man weitere Argumente dafür suchen, daß der Buchmaler die Koordination der Bildfelder tatsächlich so intendiert hat. Damit wird die Frage aufgeworfen, wie eine solche Bildpraxis in der Kultur eines christlichen Klosters des Mittelalters überhaupt verankert sein konnte. Diese Frage kann hier nicht weiterverfolgt werden. Ich möchte jedoch Mißverständnissen vorbeugen und betonen, daß diese Frage durch die Beschreibung der Phänomene mit Kategorien der Peirceschen Semiotik allenfalls aufgeworfen, aber keineswegs beantwortet ist.

Auf der anderen Seite kann man sich damit zufrieden geben, eine mögliche Form der Bildpraxis aufgezeigt zu haben und versuchen, diese semiotische Möglichkeit in ihren Grundzügen zu verstehen. In dieser Hinsicht schlage ich folgendes vor: Mit Peirce kann grundsätzlich zwischen zwei Aspekten der Bildlichkeit unterschieden werden: Der eine betrifft das ikonische Verhältnis von Repräsentamen und Objekt, und kann als illusionistische oder mimetische Bildlichkeit bezeichnet werden: Hier dient das Bild dazu, die Präsenz von Objekten zu simulieren. In der Wahrnehmung illusionistischer Bildformen als Gestalteinheit ist, wie die Kippfigur des Ochsen/Hunde zeigt, immer auch die Vorstellung der jeweiligen Objekte inbegriffen.

Die andere Form der Bildlichkeit betrifft das Verhältnis zwischen Repräsentamen und Interpretant: Dies können Teilflächen eines Bildes oder unterschiedliche Stadien eines graphischen Prozesses sein. Hier wird bildhaft gesehen, daß die ikonische Beziehung zwischen Repräsentamen und Objekt die Möglichkeit einer konsequenten Entwicklung von Interpretanten schafft. Diese Bildlichkeit möchte ich als logische oder diagrammatische Bildlichkeit bezeichnen. Bildlich bleibt diese Beziehung unter anderem deshalb, weil hier Zeichen untereinander, im Hinblick auf ihre relevanten Kategorien anschaulich verglichen werden.

Das diagrammatische Verfahren scheint mir ein ebenso grundlegendes semiotisches Prinzip zu sein wie das mimetische. Es wird jedoch weder in kunsttheoretischen Diskursen noch in den neuen Überlegungen zur ‚visual culture‘ gleichberechtigt reflektiert. Zumindest in diesem Aspekt scheint die alte Semiotik einen wesentlichen Beitrag zur neuen Bilderwissenschaft leisten zu können.

 

 

  Bildbeispiele

Bibel von San Paolo fuori le mura, Rom, Bibliothek von San Paolo fuori le mura, fol. 307v, Bildseite vor den Paulusbriefen, 450x350mm, um 870    zurück

Roda-Bibel, Paris, Bibl. Nat. MS lat. 6, fol. 65v, Bildseite vor dem Buch Daniel, 488x335mm, 11. Jh.     zurück

Juliam Jusim, Kopfunter/Kopfüber. Ein Bilderbuch zum Drehen, mit Versen von Mirjam Pressler, Wien 1999.       zurück




Literaturliste


Semiotik

Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris 1979.    zurück

Algirdas Julien Greimas/Joseph Courtés, Sémiotique. Dictionnaire raisonné de la théorie du langage, Bd. 1 u. 2., Paris 1979 u. 1986.     zurück

Charles S. Peirce, Lectures on Pragmatism - Vorlesungen über Pragmatismus, mit Einl. und Anm. hrsg. von Elisabeth Walther, Hamburg 1973 (Philosophische Bibliothek, 281).     zurück

Charles S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg. und übers. von Helmut Pape, Frankfurt a. M. 1983.     

Charles S. Pierce, Semiotische Schriften, hrsg. und übers. von Christian Kloesel und Helmut Pape, Bd. 1-3, Frankfurt a. M. 1986-1993.
    


Bildtheorie/Bildsemiotik


Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994.    zurück

James Elkins, On Pictures and the Words that fail them, Cambridge 1998.    zurück

William J. T. Mitchell, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago/London 1994.    zurück

Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Hamburg 1997.    zurück

Mieke Bal/Norman Bryson, "Semiotics and Art History", in: The Art Bulletin 73.2 (1991), 174-208.    zurück

Christian Metz, Semiologie des Films, München 1972.   zurück

Felix Thürlemann, Vom Bild zum Raum. Beiträge zu einer semitotischen Kunstwissenschaft, Köln 1990.    zurück

Klaus Sachs-Hombach/Klaus Rehkämper (Hg.), Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen, Magdeburg 1999 (Reihe Bildwissenschaft).    zurück

 




© Steffen Bogen


geändert am 12. Juni 2000