1.2

Gedächtnis meint hier die Vergangenheitssicht eines Teils von Menschen, die in einem bestimmten Raum zu einer bestimmten Zeit ihre Zusammengehörigkeit durch eine gemeinsame Vergangenheit legitimiert sahen bzw. sehen wollten. Dieses Verständnis von Geschichte ist insbesondere in der französischen Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts ausgebildet worden. Im Widerstreit zwischen Intentionalität und Kollektivität in der Geschichte entschied sie sich unter dem Einfluss der Schule der ‘Annales’ (der wichtigsten geschichtswissenschaftlichen Orientierung in Frankreich) für den Primat des Kollektiven. Die Wurzeln dieser wissenschaftlichen Orientierung gehen auf das Denken des in Deutschland wenig rezipierten, in Frankreich aber sehr wirkungsmächtigen Soziologen Émile Durkheim und seiner Schüler zurück. Durkheim fragt danach, was in der Moderne die Beziehungen der Menschen untereinander bestimmt. Er entwickelte zu seiner Hauptthese, dass alle individuellen Handlungen und Regeln letztlich auf eine überindividuelle soziale Wirklichkeit zurückzuführen seien, die er im Begriff ‘ kollektives Bewusstsein’ ansprach. Es verkörperte nach Durkheim den Handlungsrahmen aller Soziabilität von Menschen.

“Wir finden also besondere Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, daß sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren. Diese Typen des Verhaltens und des Denkens stehen nicht nur außerhalb des Individuums, sie sind auch mit einer gebieterischen Macht ausgestattet, kraft deren sie sich einem jeden aufdrängen, er mag wollen oder nicht.” (Durkheim, 1961, S. 106)

Dieses Kollektivbewusstsein hat bei Durkheim seine eigene Realität, die zwar nicht unmittelbar greifbar und analysierbar ist, die aber in ihren vielfältigen materiellen Erscheinungsformen der wissenschaftlichen Untersuchung zugänglich sei.

Durkheim

Émile Durkheim, 1858-1917.

Die Umsetzung in das geschichtstheoretische Denken leistete vor allem Durkheims Schüler Maurice Halbwachs. Halbwachs entwickelte seit den 1920er Jahren seine Konzeption eines ‘kollektiven Gedächtnisses’. Das individuelle Gedächtnis bildet sich hiernach innerhalb von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (cadres sociaux) aus, die es weitgehend bestimmen, es ist ein soziales Produkt. Ein ‘soziales Gedächtnis’ ist nicht einfach ein Speicher, sondern in ihm drückt sich eine gemeinsame Art der Welt- und Vergangenheitsdeutung eines soziales Gefüges aus. Halbwachs’ Konzeption richtete sich weder an eine individuelle Erinnerung noch an ein universales, historisches Gedächtnis.

Sein ‘kollektives Gedächtnis’ umspannt soziale Gruppen ganz unterschiedlicher Größenordnung in lokalisierbaren Räumen und in ihrer jeweiligen kollektiven, gelebten Zeit. Das ‘kollektive Gedächtnis’ ist ganz im Sinne der Durkheim’schen Theorie als etwas nicht unmittelbar Beobachtbares, aber Wirkliches konzipiert; der Einzelne ist Teil des kollektiven Gedächtnisses einer Gruppe, ob er will oder nicht; deshalb kann man von empirisch zu erfassenden, äußeren Manifestationen auf ein kollektives Bewusstsein, bzw. Gedächtnis schließen. Für die französische Geschichtswissenschaft erwies sich diese Konzeption als außerordentlich vorteilhaft und fruchtbar, denn sie ermöglichte es denn Historikern, aus individuellen und seriellen Quellen Schlussfolgerungen auf ein ‘kollektives Bewusstsein, bzw. Gedächtnis’ zu ziehen.

Im Vergleich zur herrschenden Ausrichtung der deutschen Geschichtswissenschaft war in Frankreich in der Schule der Annales im 20. Jahrhundert die Totalität und Intentionalität deutschen Denkens durch Kollektivität und soziale Eingebundenheit ersetzt worden. Der grundsätzliche Zusammenhang der geschichtlich gewordenen Welt durch eine konstitutiv gedachte Kontinuität aber ist auch Wesensmerkmal des Denkens der Annales geblieben. Eine wichtige Verschiebung erfuhr allerdings die Frage nach der Bedeutsamkeit des historisch Einzelnen: Es wird nicht mehr in Bezug zur Totalität, sondern zu einem ‘kollektiven Gedächtnis’ gesetzt.

Aufbauend auf den Überlegungen von Maurice Halbwachs, aber an die Stelle einer über Alltagskommunikation vermittelten Teilhabe an einem Gedächtnis seine aktive Konstruktion setzend, ist das ‘kulturelle Gedächtnis’ ein heute viel rezipierter Ansatz, die Rolle der Vergangenheit im Leben von Völkern und Nationen zu erklären. Das  ‘kulturelle Gedächtnis’ steht

“als Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht ... Unter den Begriff des kulturellen Gedächtnisses fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren ‘Pflege’ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Eigenheit und Eigenart stützt.” (Assmann, 1988, S. 9 und 15)

Die Basis eines ‘kulturellen Gedächtnisses’ im Sinne Jan Assmanns ist die Schriftkultur. Über die Schrift konnte in den längsten Zeiten der bekannten Geschichte eine kleine kundige Elite Herrschaft über ein kulturelles Gedächtnis ausüben.

Eine kulturelle Gedächtniswelt war in der Regel verbunden mit einer gemeinsamen Glaubenswelt, die so stabilisiert wurde. Das Konzept des ‘kulturellen Gedächtnisses’ hat sich bislang vor allem für solche ‘Gedächtniswelten’ als geeignet erwiesen, die für eine bestimmte historische Zeitspanne und für eine bestimmte große kulturelle Gemeinschaft (ein ‘Volk’) Verbindlichkeit besaßen.

Ein kulturelles Gedächtnis von zentraler Dimension bildeten auch die großen Religionen aus. Im Laufe der Neuzeit kam es zur Ablösung eines primär religiös geprägten kulturellen Gedächtnisses durch ein säkularisiertes kulturelles Gedächtnis, das nach einer neuen Sinnorientierung verlangte.

Delacroix

Eugène Delacroix: La Liberté guidant le peuple, le 28 juillet 1830.

Die übliche Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit, die nun einsetzte, ist durch den Aufstieg von Geschichte als objektiv verstehender Wissenschaft geprägt worden. Doch die Exponenten des Konzepts des ‘kulturellen Gedächtnisses’ haben in den letzten Jahren eine eigene Perspektive speziell auf die Geschichte des 19. Jahrhunderts entwickelt. Diese habe über eine Neudefinition und Neubewertung von Vergangenheit einen neuen Sinnhorizont für die Gemeinschaft geschaffen. Diese in Deutschland erst noch aufzurichtende Gemeinschaft sei die Nation gewesen. Sie legitimierte sich durch eine gemeinsame Geschichte. Für diese nun neu geschaffene, zuvor unbekannte Geschichtskonstruktion steht der Begriff ‘nationales Gedächtnis’. Es sei planvoll ein selektiertes und kanonisiertes ‘nationales Gedächtnis’ ausgebildet worden, das durch die gemeinsame Vergangenheitsannahme als Identitätsklammer wirkte.  Die Vertreter des ‘kulturellen Gedächtnisses’ argumentieren, dass Geschichte und ihre Kontinuität nicht in der Vergangenheit selbst zu finden sind, sondern immer erneut Schöpfungen der Menschen darstellen.