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Infolge des Historismus büßten universale geschichtsphilosophische Erklärungsmodelle an Überzeugungskraft ein. Der Fokus richtete sich nun nicht mehr auf einen allgemeinen Sinn der Geschichte als Ganzer, sondern auf das Sinnhafte und Sinnkonstituierende in der Geschichte. Der Zusammenhang von Zeit und Sinn wurde mit anderen Worten auf einer anderen Ebene definiert. Zum einen wurde das einzelne Subjekt, sein Leben, seine Existenz in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. So führte Wilhelm Dilthey die Erkenntnis der Geschichte auf die menschliche ‘Erfahrung’ zurück und entwickelte auf dieser Basis eine Theorie des historischen Verstehens.10 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte dann Martin Heidegger in ‘Sein und Zeit’ die Grundlagen einer Seinsgeschichte, die Geschichtlichkeit auf die existentielle Zeitlichkeit des Daseins zurückführte.11 Eingegangen sind solche Überlegungen in die moderne Theorie der historischen Hermeneutik, deren Grundlagen Hans-Georg Gadamer in seinem Buch ‘Wahrheit und Methode’ formulierte.12

Neben existenzphilosophischen entstanden zum anderen ebenfalls um die Jahrhundertwende kulturtheoretisch orientierte Entwürfe des Geschichtlichen. In diesem Zusammenhang ist vor allem Georg Simmel zu nennen. Simmel lenkte angesichts der ‘Probleme der Geschichtsphilosophie’ im Gegensatz zum Historismus den Blick auf die kulturellen Formationen als Ebenen der Sinnkonstitution.
13 Geschichte besaß demnach nicht einen genuin eigenen Sinn. Vielmehr erschien sie bei Simmel als “eine bestimmte Form oder Summe von Formen, mit denen der betrachtende, synthetische Geist ... die Überlieferung des Geschehenen durchdringt und bewältigt”. 14

Unter dem Eindruck der urbanen Massenkultur und ihres selektiven Erinnerungshorizontes erneuerte Walter Benjamin in den 1920er Jahren die Kritik an der historistischen Geschichtsauffassung. An Stelle der herrschenden Geschichte, in der er vor allem eine Legitimierung und Traditionsbildung des Siegreichen sah, verlangte Benjamin die Erinnerung des Leidens.

Sie sollte den Anspruch des Gewesenen auf Zukunft ernst nehmen und auch das vergessene Unterlegene wieder in sein Recht setzen. Gerade kulturtheoretischen Geschichtsmodellen, wie sie Simmel und Benjamin vertraten, wurde in jüngerer Zeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt. So hat man - vor allem unter Rekurs auf den Erinnerungsbegriff - den Blick auf die kulturellen Bedingungen jeder Form der zeitlichen Sinnkonstitution gelenkt.

Simmel

Georg Simmel, 1858-1918.

Jan Assmann arbeitete in diesem Zusammenhang ein Konzept aus, das die historische und formative Kraft des ‘kulturellen Gedächtnisses betonte.15 In Frankreich entwarf Pierre Nora unter der Überschrift ‘Gedächtnisorte’ ein Forschungsprogramm, das die unterschiedlichsten Topoi des französischen Nationalgedächtnisses zum Gegenstand des Interesses machte.16 Auch die ‘Geschichte’, wie sie die Geschichtswissenschaft versteht, erschien dabei als ein Aspekt moderner ‘Erinnerungskulturen’. Letztlich relativierte sich somit – zumindest implizit - die Vorstellung einer einheitlichen und umfassenden Geschichte, wie ihn die klassische Geschichtsphilosophie etabliert hatte.

10 Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Leipzig 1883.
11 Martin Heidegger: Sein und Zeit, 15. Aufl., Tübingen 1984.
12 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl., Tübingen 1965.
13 Georg Simmel: Kant. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (Zweite Fassung 1905 / 1907) (= Gesamtausgabe, Bd.9), Frankfurt am Main 1997.
14 Georg Simmel: Vom Wesen des historischen Verstehens, Berlin 1918, S. 16.
15 Vgl. u.a. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. in: Ders./ Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988, S. 9-19; ders.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.
16 Vgl. u.a. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte, in: Ders.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990, S. 11-33.