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Erst im 18. Jahrhundert entstand der Gedanke von der zukunftsoffenen geschichtlichen Zeit und mit ihm die Geschichtsphilosophie im engeren, klassischen Sinne. Ausgangspunkt war die im Kontext der Aufklärung entwickelte Vorstellung, dass sich die Zeit nach Regeln der ‘Vernunft’ entwickle. Jenseits aller kontingenten Einzelereignisse existierte demnach, richtete man den Blick auf das Ganze, geschichtlicher ‘Fortschritt’ (Bossuet, Voltaire, Turgot, Condorcet, Lessing, Comte). Alle einzelnen, noch so unzusammenhängend erscheinenden Ereignisse und ‘Geschichten’ bildeten mit anderen Worten in der Zusammenschau eine ‘Geschichte’. Diese ‘Geschichte’ im Kollektivsingular war die Menschheitsgeschichte.

Und eben diese Menschheitsgeschichte kennzeichnete die fortschreitende Verwirklichung der Vernunft. Die bisherigen Errungenschaften, so schrieb A. Condorcet 1794 in seinem ‘Entwurf einer Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes’, ließen keinen Zweifel daran, dass die Menschheit “auf dem Wege der Wahrheit, der Tugend und des Glücks” sei.
2 In ihrer klassischen Gestalt beschrieb die deutsche Geschichtsphilosophie diesen ‘Weg der Wahrheit’ als einen Gang der Freiheit. Geschichte erhielt durch Philosophen wie Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel eine konsequent auf die Zukunft gerichtete Zeitperspektive. Geschichtliche Zeit wurde ein Modus der Verwirklichung eines “verborgenen Plans der Natur” 3, der in der Herstellung eines idealen gesellschaftlichen Zustands kulminierte.

Bei Kant bestand dieser Zustand in einer “äußerlich vollkommenen Staatsverfassung”, in welcher “ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schooß, worin alle ursprüngliche Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, dereinst einmal zu Stande kommen werde”.4 Dadurch erhielt die Geschichtsbetrachtung einen affirmativen Zukunftsbezug.5 Auch Fichte ließ Vernunft und Geschichte im Freiheitsbegriff konvergieren.

In seinem Buch über die ‘Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters’ bestimmte er als den “Zweck des Erdenlebens der Menschheit ..., daß sie in demselben alle ihre Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichte”.
6 Die Geschichte erschien als epochale Abfolge von Stufen auf dem menschlichen Weg zur Freiheit. An Kant und Fichte anknüpfend baute schließlich Hegel dieses Geschichtsdenken zu einem umfassenden System aus.

Kant

Immanuel Kant, 1724 - 1804.

 In seiner Geschichtsphilosophie verkörperte der ‘Weltgeist’ das teleologische, der Erlösung der Menschheit entgegenstrebende Moment.7 Gegenstandsbestimmung, Verlaufsformen und Gesetzmäßigkeiten der Geschichte ergaben sich aus dem Gedanken der Verwirklichung des ‘Weltgeistes’. Der ‘Weltgeist’ stand am Ende alles Geschehens als offenbarter Sinn, und er strukturierte alles Geschehen bis zum Zeitpunkt seiner Offenbarung.

2 Jean Antoine Nicolas de Caritat de Condorcet: Entwurf einer Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, 1794, S. 221.
3 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Berlinische Monatsschrift, Nov 1784, S. 17-31, hier S. 27.
4 Ebd., S. 27f.
5 Vgl. ebd., S. 29: “Wenn man indessen annehmen darf: daß die Natur selbst im Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht verfahre, so könte diese Idee doch wohl brauchbar werden; und ob wir gleich zu kurzsichtig sind, den geheimen Mechanism ihrer Veranstaltung durchzuschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen als ein System darzustellen.”
6 Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 4., durchges. Aufl., nach d. Erstdr. von 1806, Hamburg 1978, S. 7.
7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (Berlin 1822/1823), hg. von Karl Heinz Ilting, Hamburg 1996.