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Ganz explizit wurde der Kollektivsingular ‘Geschichte’ in den letzten Jahrzehnten von einer anderen Seite infrage gestellt. Im Kontext des sog. ‘Dekonstruktivismus’ wurden Zweifel artikuliert, ob es einen Referenten ‘Vergangenheit’ überhaupt gebe, auf den sich gesicherte Erkenntnisbildung beziehen könne. Autoren wie Jacques Derrida und Keith Jenkins verorteten die Sinnkonstitution in den Erzählstrategien des Vergangenen.17 Geschichte erschien mit anderen Worten als ‘Text’, der keinerlei Verbindung mit außersprachlich existierenden vergangenen Welten besitze. Die Wurzel dieser radikalen Kritik findet sich wiederum schon im 19. Jahrhundert.

In der 1874 veröffentlichten Abhandlung über ‘Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben’ bestritt Friedrich Nietzsche dem Historischen jeden Eigenwert. Die Geschichte erschien bei Nietzsche als eine lebensfeindliche Kraft, die Größe relativiere und wahren Fortschritt verhindere. Dahinter stand Nietzsches Kritik an der zeitgenössischen Kultur. Die Zeit musste nach Nietzsche von einer vergangenheitsorientierten Sinnkonstitution grundsätzlich entkoppelt werden, die Historie demnach als Medium der Selbst- und Gesellschaftsinterpretation verschwinden.

Letztlich bleibt die Frage nach dem Zusammenhang von Zeit und Sinn eine der zentralen und aktuellen Fragen der Geschichtswissenschaft. Sie wird kaum in grundsätzlicher Weise zu klären sein. Jedenfalls kann heute Immanuel Kants Aufforderung an den ‘philosophischen Geschichtsschreiber’, in der Historie einen universalen planmäßigen Prozess zu erkennen, nicht

Nietzsche

 Friedrich Nietzsche, 1844-1900.

mehr überzeugen. Statt dessen müssen sich HistorikerInnen bewusst sein, dass die Geschichtsschreibung konkret und durchaus konstruktiv vergangene Zeit zu einer sinnvollen Zeit macht.

17 Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1977; ders., Grammatologie, Frankfurt am Main 1982; Keith Jenkins: Re-thinking History, London / New York 1991.