Mittlerweile existieren zahlreiche Fallstudien zum 'kollektiven Gedächtnis' in vergangenen Epochen. Für das Mittelalter wurde in diesem Zusammenhang vor allem auf die Bedeutung der Totenmemoria hingewiesen. Die Vorstellung von der Gemeinschaft der Lebenden und Toten – die 'Gegenwart der Toten' – spielte dabei eine große Rolle. In der genealogischen Selbstvergewisserung des Adels, aber auch in der liturgischen und monastischen Memorialüberlieferung war dieser Gedanke besonders verankert.11 Auch für die frühe Neuzeit hat sich der Ansatz der Gedächtnisgeschichte als fruchtbar erwiesen. Im Gegensatz zum mittelalterlich-genealogischen Gedächtnis entstanden in der Renaissance neue, gewissermaßen archäologische Formen der Erinnerung. Seit dem 15. Jahrhundert ging es um die Aufdeckung vermeintlich verschütteter Inhalte und um die Entwicklung von Verfahren, durch die kulturelle Gegenstände, die ihrem ursprünglichen normativen Kontext entfremdet wurden, rekonstruiert und aktualisiert werden konnten. Paradigmatisch formulierte William Shakespeare die Prämissen dieser Erinnerungsweise im Hamlet folgendermaßen: "From the table of my memory I'll wipe away all trivial fond records, all saws of books, all forms ...". 12 Der Wille zur (Wieder-)Herstellung eines normativen Referenzhorizontes durch Rekurs auf authentische und unbezweifelbare Grundsätze zog sich von der humanistischen Antikerezeption über die reformatorische Bibelexegese bis hin zu den großen Naturrechtsentwürfen des späten 17. und 18. Jahrhunderts. 13

Parallel dazu entstand sukzessive ein neuer Umgang mit der 'Geschichte'. Zum einen wurde sie chronologisiert und als genau gegliederte Zeitabfolge dem einzelnen Betrachter und seinen Interpretationsleistungen übergeben. Zum anderen wurden hermeneutische Standards entwickelt, die zu einer zunehmenden Methodisierung des Erfahrungs-, Norm- und Ideenbezugs auf die Vergangenheit führten. Am Ende der frühen Neuzeit wurde schließlich der normativ-referentielle vollständig durch einen historisch-hermeneutischen Zugriff auf die Vergangenheit ersetzt. Hier liegen die Wurzeln des modernen Verständnisses von Geschichte als eines alle Einzelgeschichten umfassenden, kontinuierlichen Prozesses.14

Aus geschichtlicher Perspektive existiert zwischen den modernen Formen der Geschichtsbetrachtung und den vormodernen Erinnerungsweisen eine Verbindungslinie, insofern beide in der Identitätsbildung von Menschen und Gruppen ihren Fokus besitzen. Untersucht man die Gedächtnisgeschichte, so ist man damit letztlich auch mit den Voraussetzungen des eigenen Tuns konfrontiert. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass auch die historiographische Selbstreflexion auf die Kategorien 'Erinnerung' und 'Gedächtnis' zurückgreift, um nach den Grundlagen der modernen Geschichtsschreibung zu fragen.15 Dabei kommen nicht nur facheigene Fragestellungen zum tragen, sondern es rücken auch zunehmend nachbarwissenschaftliche, insbesondere psychoanalytische und literaturwissenschaftliche Beiträge in den Blick.16 Das Begriffsfeld der 'Erinnerung' organisiert, wie sich zeigt, in der aktuellen Diskussion einen Raum, der eine ganze Palette von Erkenntnisinteressen beinhaltet.

Literatur:
11 Vgl. Otto Gerhard Oexle, Memoria und Memorialüberlieferungen im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 10 (1976), S.70-95; ders., Die Gegenwart der Toten, in: Death in Middle Ages, hg. v. Herman Braet u. Werner Verbeke, Leuven 1983, S.19-77; ders. (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995; Arnold Angenendt, Theologie und Liturgie der mittelalterlichen Toten-Memoria, in: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, hg. v. Karl Schmid u. Joachim Wollasch, München 1984, S.79-199; Karl Schmid/Joachim Wollasch, Die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 1 (1967), S.365-405; Dies. (Hg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, München 1984.

12 Shakespeare, Hamlet, I. Akt, 5. Szene.

13 Vgl. dazu u.a. Henning Wrede, Die Entstehung der Archäologie und das Einsetzen der neuzeitlichen Geschichtsbetrachtung, in: Geschichtsdiskurs. Bd.2: Anfänge modernen historischen Denkens, hg. v. Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin, Frankfurt am Main 1994, S.95-119; A. Buch u. K Heitmann (Hg.), Die Antike-Rezeption in den Wissenschaften während der Renaissance, Weinheim 1983;

14 Vgl. u.a. A. Buch, Humanismus und Historiographie, Marburg 1991; U. Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung, München 1991; Peter Hanns Reill, The German Enlightment and the Rise of Historicism, Berkeley/Los Angeles/London 1975; Hans Erich Bödeker (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, München 1988; Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 4.Aufl., Frankfurt am Main 2000.

15 Vgl. einführend Lutz Niethammer: Die postmoderne Herausforderung. Geschichte als Gedächtnis im Zeitalter der Wissenschaft. In: Wolfgang Küttler/ Jörn Rüsen/ Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs. Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte. Frankfurt am Main 1993, S. 31-49.

16 Vgl. u.a. Siegfried J. Schmidt (Hg.), Gedächtnis. Probleme und Perspektiven. Frankfurt am Main 1991, S. 9-55; Jörn Rüsen / Jürgen Straub (Hg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein (Erinnerung, Geschichte, Identität, Bd. 2). Frankfurt am Main 1998.