Seit einigen Jahren haben nun HistorikerInnen in den Themen 'Gedächtnis', 'Erinnerung' oder 'Geschichtskultur' ein wichtiges Forschungsfeld erkannt.1 Ausgangspunkt dafür war die erstmals 1925 von Maurice Halbwachs artikulierte Einsicht, dass nicht nur einzelne Menschen ein Erinnerungsvermögen besitzen, sondern auch ganze Gesellschaften 'kollektive Gedächtnisse' entwickeln. 2 Im 'kollektiven Gedächtnis' bewahre eine Gesellschaft, so Halbwachs, Erfahrungen auf, die der eigenen Identitätssicherung dienen. Diese Erfahrungen unterliegen dabei allerdings der Transformation, da sie durch den Filter gesellschaftlicher Sinnbedürfnisse und Wahrnehmungsweisen gehen.

Im Anschluss an Halbwachs bildet der Zusammenhang von Identitätsbildung und kollektiver Erinnerung einen Schwerpunkt der jüngeren Gedächtnisforschung. Sie entwickelte sich zunächst in Halbwachs Heimatland Frankreich. Zwischen 1984 und 1992 entstand dort unter der Federführung Pierre Noras und der Beteiligung zahlreicher französischer Historiker eine siebenbändige Geschichte der 'Gedächtnisorte' (Lieux de mémoire). Sie umfasst über viereinhalbtausend Seiten und beinhaltet 120 Aufsätze zu nahezu jedem Topos des französischen Nationalgedächtnisses.3 Als 'Gedächtnisort' gilt dabei alles, was sich als Gegenstand der nationalen Erinnerung und Identitätsbildung erwiesen hat: "Museen, Archive, Friedhöfe und Sammlungen, Feste, Jahrestage, Verträge, Protokolle, Denkmäler, Wallfahrtsstätten, Vereine". 4 Noras erklärtes Ziel ist es, über eine 'Typologie der französischen Symbolik' zu einer 'französischen Geschichte zweiten Grades' zu gelangen. Nicht mehr die Vergangenheit als solche ist dabei von Interesse, sondern die kulturell überformte Gegenwart der Vergangenheit steht im Mittelpunkt.

Auch in Deutschland wurde die Frage nach der Gegenwart der Vergangenheit gestellt. Unter dem Oberbegriff der 'Geschichtskultur' entwickelte Jörn Rüsen etwa zehn Jahre nach Nora ein ganz anderes Konzept.5 Ausgehend von der Aktualität des Geschichtlichen in der gegenwärtigen Diskussion plädierte Rüsen für eine "grundsätzliche(n) Erweiterung der historischen Sachkompetenz in den Bereich des praktischen Gebrauchs historischen Wissens hinein". 6 Es geht ihm mithin nicht, wie Nora, um Gedächtnisforschung als einer alternativen Form zur herkömmlichen Geschichtsbetrachtung. Vielmehr bedarf die klassische Geschichtswissenschaft einer Kompetenzerweiterung um den Aspekt des alltäglichen Umgangs mit der Vergangenheit. Auch die aktuellen politischen, religiösen und kulturellen Erinnerungsformen sollen demnach dem wissenschaftlich geschulten Blick der HistorikerInnen unterworfen werden.

Neben dem Problem des modernen Umgangs mit der Vergangenheit spielte und spielt in der Erinnerungsforschung natürlich auch die Frage nach vergangenen Formen der Vergegenwärtigung eine große Rolle. Einer Kulturgeschichte des sozialen Gedächtnisses widmen sich seit einiger Zeit u.a. Jan und Aleida Assmann.7 Jan Assmann, der sich in Fallstudien vor allem mit antiken Gedächtniskulturen beschäftigte, erarbeitete in diesem Zusammenhang ein Konzept der 'Gedächtnisgeschichte'. Besondere Bedeutung wies er dabei der Transformation der Erinnerungsmedien zu. Das 'kulturelle Gedächtnis' hängt demnach unmittelbar mit den Möglichkeiten zusammen, Erinnerungen zu fixieren. Das beschränkt sich keineswegs nur auf schriftliche Formen der Überlieferung von Vergangenem. Auch "Riten und Tänze, Muster und Ornamente, Trachten und Tätowierungen, Essen und Trinken, Monumente, Bilder, Landschaften, Weg- und Grenzmarken" dienen der vergangenheitsbezogenen Identitätsbildung: "Alles kann zum Zeichen werden, um Gemeinsamkeit zu kodieren. Nicht das Medium entscheidet, sondern die Symbolfunktion und Zeichenstruktur." 8

Unter Rekurs auf den Erinnerungsbegriff wird der historiographischen Praxis damit ein neuer Untersuchungsbereich eröffnet, den Assmann als "Komplex an symbolisch vermittelter Gemeinsamkeit" bezeichnet.9 Dieser Untersuchungsbereich konstituiert die 'Gedächtnisgeschichte' als eine historische Teildisziplin: "Im Unterschied zur Geschichte im eigentlichen Sinne geht es der Gedächtnisgeschichte nicht um die Vergangenheit als solche, sondern nur um die Vergangenheit, wie sie erinnert wird. Sie untersucht die Pfade der Überlieferung, die Netze der Intertextualität, die diachronen Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Lektüre der Vergangenheit. Gedächtnisgeschichte steht nicht im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft, sondern bildet einen ihrer Zweige wie auch Ideengeschichte, Sozialgeschichte, Mentalitätsgeschichte oder Alltagsgeschichte." 10

Literatur:
1 Vgl. dazu als einführenden Überblick Clemens Wischermann, Geschichte als Wissen, Gedächtnis oder Erinnerung? Bedeutsamkeit und Sinnlosigkeit in den Vergangenheitskonzeptionen der Wissenschaften vom Menschen, in: Ders. (Hg.), Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1996, S. 55-86 (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 15)

2 Vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 2.Aufl., Frankfurt am Main 1985; ders., Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main, 2.Aufl.,1985.

3 Vgl. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte. In: Ders., Zwischen Geschichte und Gedächtnis (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 16). Berlin 1990, S. 11-33. Zum Verhältnis von Nora und Halbwachs vgl. Klaus Große-Kracht, Gedächtnis und Geschichte: Maurice Halbwachs - Pierre Nora. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 21-31.

4 Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, S.17.

5 Vgl. dazu u. a. Klaus Fröhlich (Hg.), Geschichtskultur (Jahrbuch für Geschichtsdidaktik, Bd.3), Pfaffenweiler 1992; Klaus Füßmann/ Heinrich Theodor Grütter/ Jörn Rüsen (Hg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln / Weimar / Wien 1994. Hier auch der wichtige Aufsatz von Jörn Rüsen, Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, S. 3-26.

6 Jörn Rüsen, Geschichtskultur als Forschungsproblem. In: Fröhlich, Geschichtskultur, S. 39-50, hier S.40.

7 Vgl. u.a. Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt am Main 1993; dies., Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; dies., Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln/Weimar/Wien 1999; Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S.9-19; ders., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; ders., Moses der Ägypter. Die Entzifferung einer Gedächtnisspur, Darmstadt 1998.

8 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.139.

9 Ebd.

10 Assmann, Moses der Ägypter, S. 26f.