7.2.4.1 7.2.4.1 Diskursgeschichte II

In der Nachfolge Kuhns interessierten sich die WissenschaftshistorikerInnen, die andere Bereiche untersuchten, für Diskontinuitäten und arbeiteten Epochen mit fundamental unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, mit verschiedenen Wissensformationen und ebenso vielen Ergebnissen und Erkenntnisfortschritten heraus. Im Bereich der frühen Neuzeit konzentrierten sich die diskursgeschichtlichen Untersuchungen dementsprechend vor allem auf die Umbruchphasen des Wissens. Dazu gehört zum einen die Renaissance, also der Zeitraum zwischen 1400 und 1600. Englischsprachige Theoretiker aus dem Umfeld der sogenannten 'Cambridge School' untersuchten in diesem Zusammenhang die 'politischen Sprachen' der Zeit.2

Hinter dem Begriff der 'politischen Sprache' steht die Auffassung, dass der Erkenntnisgegenstand des politischen Wissens in Sprachsystemen konstituiert wird, die damit sowohl zur Ausgestaltung begrifflicher Welten als auch zur Ausgestaltung sozialer Welten beitragen. Politisches Denken kann demnach nur in Zusammenhang mit dem politischen Handeln einer sozialen Gemeinschaft analysiert werden. Beide sind wechselseitig als Kontexte aufeinander bezogen. Die Cambridge School will die Geschichte der Ideen also durch eine Geschichte der Sprachen ersetzen. Jede Sprache enthält, so lautet die Annahme, eine Anzahl sprachlicher Konventionen, die für den Autor die Möglichkeiten einschränken, Politik zu konzeptualisieren oder ihre Institutionen und Praktiken zu legitimieren. In seinem Buch über 'The Machiavellian Moment' beschreibt John G.A. Pocock in diesem Zusammenhang die Entstehung der Sprache des 'civic humanism' oder 'classical republicanism' im republikanischen Florenz des 15. Jahrhunderts.
3 Diese Sprache stellte, so Pocock, Kategorien einer aktiv am Gemeinwohl partizipierenden Bürgerschaft zur Verfügung. Sie wurde als solche im 17. und 18. Jahrhundert zur bevorzugten Rhetorik oppositioneller englischsprachiger Gruppen und gelangte von hier aus schließlich in den amerikanischen Verfassungsdiskurs.

Die zweite Umbruchphase, die für diskursgeschichtliche Unternehmungen von besonderem Interesse ist, ist die sogenannte 'Sattelzeit', also die Übergangszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert. Geprägt wurde der Terminus der 'Sattelzeit' von Reinhart Koselleck im Kontext der 'Begriffsgeschichte', einem der bedeutendsten deutschsprachigen Ansätze der Kontextualisierung von Ideen. Nicht mehr Ideen, sondern Begriffe werden dabei als historische Analyseeinheiten zugrundegelegt.
4 Die Begriffsgeschichte grenzt sich damit von der Bindung an einzelne Autoren und Texte, Schulen und Traditionen ab. Geschichte ist immer sprachlich erfasste Geschichte, die sich in Begriffen niederschlägt. Durch die Analyse des Bedeutungswandels von Ausdrücken soll ein Zugang zur Wirklichkeitserfahrung vergangener Epochen in Zusammenhang mit den jeweiligen sozialen und politischen Formationen und deren Wandel gefunden werden. Dieser Wandel war vor dem Hintergrund der politischen und industriellen Revolution um 1800 besonders groß. Die Begriffsgeschichte sieht sich somit als Teil einer universal definierten Sozialgeschichte, deren Gegenstand die Wechselbeziehung von sozialem und sprachlichen Wandel ist. 5

Auch die aus dem französischen Forschungszusammenhang stammende Diskursgeschichte besitzt ihren Schwerpunkt in der Übergangszeit vom 18. zum 19. Jahrhundert. Zu ihren Hauptvertretern zählt Michel Foucault. Er hat in den sechziger und siebziger Jahren eine Reihe historischer Studien vorgelegt, die auch in der deutschen Geschichtswissenschaft rezipiert wurden und werden. Die 'Geburt der Klinik', 'Überwachen und Strafen' und 'Die Ordnung der Dinge' zählen zu den bekanntesten seiner Arbeiten.
6 Seine Hauptthese, die er in diesen Studien ausarbeitet, lautet, dass es die aus der Zeit der Aufklärung stammende und bis heute wirksame Vorstellung einer emanzipatorischen Evolution des abendländischen Individuums nicht gebe. Statt dessen richtet er den Blick, hierin wiederum Kuhn vergleichbar, auf erkenntnistheoretische Revolutionen und kommt dabei zu dem Schluss, dass das moderne wissenschaftliche Paradigma - das Paradigma, das den Menschen als zentrale erkenntniskonstituierende Instanz etabliert - keineswegs das konsequente und folgerichtige Ergebnis der abendländischen Entwicklung sei, sondern Ausdruck eines erkenntnistheoretischen Bruchs Ende des 18., zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Foucault hat seine diskursgeschichtlichen Studien auch theoretisch in dem Buch 'Archäologie des Wissens' reflektiert uns sich dabei von der hermeneutisch ausgerichteten Ideengeschichte distanziert.
7 Mit dem Ideen-Begriff zu operieren, reicht nach Foucault demnach nicht aus. Statt dessen muss sich die Aufmerksamkeit auf die hinter dem geschriebenen Wort liegenden Wissenssegmente, Denkmuster und unausgesprochenen, aber assoziierten Wissensfelder richten. Aussagen, so Foucaults These, beinhalten immer mehr Informationen als das eigentlich Gesagte, da sie in diskursiver Beziehung zu einem Aussagenfeld stehen, das als Tiefenstruktur im Gespräch oder im Text immer mit aktualisiert wird. Eine Aussage zu politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Themen lässt sich mit anderen Worten nicht isoliert interpretieren, sondern nur im Rahmen der Aufdeckung von diskursiven Regeln und Regelmäßigkeiten, die die Aussage in der vorliegenden Form erst möglich machen. In der Gesamtschau ergeben Aussagen, Regeln und Regelmäßigkeiten bestimmte 'Diskursformationen', die in ihrer je spezifischen historischen Gestalt für die Modi der Kommunikation und intersubjektiven Verständigung zentral sind. Deshalb ist für Foucault der Diskurs nicht nur eine Kategorie zur Erforschung einer von der Realität abgehobenen Ebene der Bewusstseinsstrukturen, sondern bezeichnet immer die Totalität der gesellschaftlichen Ereignisse als Ganzes. Die gesellschaftliche Realität ist mit anderen Worten immer durch den Diskurs vermittelt. 8

Im Anschluss an Foucault wurde der diskursgeschichtliche Ansatz in zahlreichen Einzelstudien gerade für den Bereich der frühen Neuzeit fruchtbar gemacht. Zu den Themenfeldern zählte die Ordnung des Wissens in frühneuzeitlichen Bibliotheken, Disziplinierungspraktiken in der Aufklärung oder die Ordnung des moralisch guten Handelns im 18. Jahrhundert.
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2 Vgl. v.a. John G.A. Pocock, Languages and their Implications: the Transformation of the Study of Political Thought, in: Ders., Politics, Language and Time. Essays on Political Thought and History, London 1971, S.3-40; ders., Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption, Frankfurt am Main / New York 1993. Allgemein zur 'Cambridge School' vgl. Hartmut Rosa, Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie: Der Beitrag der 'Cambridge School' zur Metatheorie, in: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), S.197-223.

3 John G.A. Pocock, The Machiavellian Moment, Princeton 1975.

4 Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972ff., Bd.1, S.XIII-XXIII; ders. (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979.

5 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 2.Aufl., Frankfurt am Main 1984, S.107-129.

6 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main 1988; ders., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994; ders., Die Ordnung der Dinge, 12. Aufl., Frankfurt am Main 1994.

7 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981.

8 Vgl. zu Foucault Dieter Teichert, Zwischen Wissenschaftskritik und Hermeneutik: Foucaults Humanwissenschaften, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47 (1993), S.204-222;, Mark Poster, Archäologie des Wissens und Geistesgeschichte, in: Dominik LaCapra / Steven L. Kaplan (Hg.), Geschichte denken. Neubestimmung und Perspektiven moderner europäischer Geistesgeschichte, Frankfurt am Main 1988, S.143-159; Hilmar Kallweit, Archäologie des historischen Wissens. Zur Geschichtsschreibung Michel Foucaults, in: Christian Meier / Jörn Rüsen (Hg.), Historische Methode, München 1988, S.267-299.

9 Doris Bachmann-Medick, Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1989; Thomas Kempf, Aufklärung als Disziplinierung. Studien zum Diskurs des Wissens in Intelligenzblättern und gelehrten Beilagen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, München 1991; Helmut Zedelmaier, Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1992.